idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
07.08.2001 12:54

"Auch Du gehörst dem Führer": Dokumentation zur Geschichte des BDM

Rolf Willhardt Stabsstelle Presse und Kommunikation
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

    Die Düsseldorfer Erziehungshistorikerin Prof. Dr. Miller-Kipp stellte die erste umfassende Dokumentation zur Geschichte des weiblichen Teils der Hitler-Jugend zusammen. War der "Bund Deutscher Mädel" die Vorgängerin der emanzipierten Frau von heute?

    Der "Bund Deutscher Mädel" (BDM) war die andere Hälfte der Hitler-Jugend (HJ). Im Gegensatz zum "männlichen" Teil der HJ ist der BDM jedoch so gut wie nicht erforscht. Eine Düsseldorfer Erziehungshistorikerin legt nun erstmals einen umfangreichen Quellen- und Dokumentationsband zur Geschichte des BDM vor. War das BDM-Mädel die Vorgängerin der emanzipierten Frau von heute?

    Als sich die 20-jährige Elisabeth G. 1949 zum Abitur meldet, muß sie auch eine Biographie beifügen. Sie notiert: "Auf einmal sollte alles, was mir einmal etwas bedeutet hatte, nichts mehr sein? Die großartige Fassade brach vor meinen Augen zusammen. Ich fand nirgends einen festen Halt, da mir auch mein christlicher Glaube nichts mehr geben konnte. Völlig verzweifelt stand ich dem Leben gegenüber."
    Elisabeth G. war begeisterte Jungmädelführerin gewesen. Hatte mit kleinen Mädchen die HJ-Hymne "Unsre Fahne flattert uns voran" gesungen, war gewandert, hatte für Weihnachtsmärkte gebastelt, war fasziniert von den NS-Ritualen der Massenaufmärsche mit Fanfarengeschmetter, Fackeln, knatternden Standarten und Uniformen.
    Dann brach 1945 das "Dritte Reich" zusammen, - und mit ihm die Ideale von Millionen Jugendlicher. Denn sie waren durch das lückenlose Erziehungssystem des NS-Staates geprägt worden. Bis 1939 gehörten rund 98 Prozent aller 10- bis 18-jährigen Deutschen der Hitler-Jugend an, die Hälfte davon Mädchen, straff organisiert im 1930 gegründeten "Bund Deutscher Mädel". Auf Millionen Plakaten verbreitetes Motto: "Auch Du gehörst dem Führer".

    Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Dr. Gisela Miller-Kipp mit dem Phänomen "BDM". Die Professorin für Allgemeine und Historische Pädagogik an der Heinrich-Heine-Universität legte nun die erste umfassende, kritisch kommentierte Quellenedition zum weiblichen Teil der HJ vor. Denn die ernstzunehmende historische Forschung nahm seltsamerweise vom BDM bislang so gut wie keine Notiz, allenfalls in populärwissenschaftlichen Darstellungen, Autobiographien, Romanen oder in TV-Dokumentationen zum "Dritten Reich" tauchte das Thema auf.
    Tatsache ist: Der BDM bot der weiblichen Jugend zum ersten Mal in der Geschichte der Frauen und Mädchen in Deutschland ein öffentlich anerkanntes außerhäusliches Jugendleben. Miller-Kipp: "Damit griff nationalsozialistische Jugendpolitik modernisierend in den Lebenszusammenhang der weiblichen Jugend und in die gesellschaftliche Geschlechterhierarchie ein, und zwar ideologisch als auch praktisch. Das erzeugte einen latenten Widerspruch zur parteiamtlichen nationalsozialistischen Geschlechterideologie und Geschlechterpolitik."
    Und die war alles andere als "modern". Der BDM also als Speerspitze der Frauenemanzipation im Deutschland der 30er Jahre?
    Miller-Kipp: "Er propagierte wohl ein modernes Bild vom 'deutschen Mädel', und zwar bewußtseinsprägend wirksam auch noch über 1945 hinaus." Dennoch sprengte er nicht das politische System, er stabilisierte es, blieb Teil der Herrschaftssicherung und des Machtapparates der NSDAP.
    Die Düsseldorfer Erziehungswissenschaftlerin faßt ihre Quellenedition in sieben Kapiteln zusammen: Institution, politische Jugendführung, Erziehung und Berufsausbildung, gesellschaftliche Ausbeutung, Rasse- und Gesundheitspolitik, Frauenbild und Geschlechterdiskurs.
    Besonders der letzte Teil ("Die Betroffenheit der Subjekte: Einlassungen und Erinnerungen 1946 - 1999") wirft - als Mentalitäts- und Wirkungsgeschichte des BDM - ein bezeichnendes Bild auf den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Die drei Buchstaben BDM emotionalisieren bis heute. "Ehemalige", Führerinnen, Mitläuferinnen berichten. Es wird verharmlost, dämonisiert, getrauert, glorifiziert; es gibt Betroffenheit, Selbstmitleid, Selbstkritik, nostalgische Schwärmerei. Eine "mißbrauchte" Jugend?

    Die Dienst- und Opfermentalität, die den Führerinnen eingedrillt worden war, schlägt nach 1945 offenbar gerade in dieser Gruppe vielfach in Selbstmitleid um: Die Täter selbst stilisieren sich zu Opfern, in milderer Form zu Verführten. Miller-Kipp: "Die im letzten Kapitel zusammengestellten Dokumente der Erinnerung belehren spätestens nach 1945 historisch deutlich darüber, daß die Gleichaltrigengemeinschaft 'der' Ort der Jugend ist, und daß derjenige die Jugend gewinnt, der ihr diesen Ort 'in der Tat' oder als 'Tatort' anbietet und organisiert. Als 'Tatgemeinschaft', um einen Begriff der Zeit zu bemühen, hält Jugend zusammen und kann Jugend mit Leichtigkeit kollektiv geführt und politisch verführt werden. Die jugendliche Erlebnis- und Tatgemeinschaft ist Zentrum des Jugendlebens und positiver Fixpunkt der persönlichen Erinnerung."
    Die Düsseldorfer Pädagogin stellt fest, daß die Erinnerung an die BDM-Zeit mit ihrer Modernisierung des weiblichen Lebens bei vielen als "vergangene Hoffnung" erscheint. "Ob und in wie weit sich dies 'moderne' Bewußtsein denn nach 1945 aktualisiert hat, ob es bestimmend geworden ist und vielleicht weitergegeben wurde, wäre noch eigens zu erforschen. Die Nachkriegskarrieren der BDM-Generation sind bislang nicht erhoben worden."

    Kontakt: Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp, Tel. 0211-811-2369

    Gisela Miller-Kipp (Hrsg.): "Auch Du gehörst dem Führer" - Die Geschichte des BDM in Quellen und Dokumenten, Weinheim und München: Juventa Verlag, 2001, 384 Seiten, 74 DM


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).