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15.08.2001 10:28

Indische Mittelschichtsfrauen zwischen Tradition und Emanzipation

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Religionswissenschaftlerin der Freien Universität Berlin untersucht religiöse Rituale in Indien

    Göttin, Gattin, Mutter - Der Titel der Dissertation von Katharina Poggendorf-Kakar vom Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin bei Professor Dr. Hartmut Zinser verrät bereits viel über das klassische Frauenbild im Hinduismus. Keine andere Religion hat ein so reiches Spektrum an Göttinnen, von der blutrünstigen Kali, die auf dem Körper ihres Gatten tanzt, bis zu den häuslichen und sanften Inkarnationen der weiblichen Sakti-Energie. Und dennoch ist der Hinduismus eine patriarchale Religion: Die Frau erwirbt Achtung durch Aufopferung für ihren Mann und ihre Familie sowie durch die Geburt von Söhnen. Wie aber gehen moderne Frauen aus der gebildeten Mittelschicht mit diesen traditionellen und religiös begründeten Anforderungen um, fragte Poggendorf-Kakar. Denn natürlich hat sich auch in Indien inzwischen eine breite Mittelschicht gebildet, die in den besseren Wohngebieten lebt und über (offizielle) Monatseinkommen zwischen DM 600 und DM 1.000 verfügen kann. Männer und viele Frauen aus dieser sozialen Schicht arbeiten in typischen Schreibtischberufen und legen großen Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Kinder. Geben solche Frauen nun die zeitaufwendigen, religiösen Rituale allmählich auf oder wandeln sie sie möglicherweise ab?

    Um diese Fragen zu untersuchen, führte die Religionswissenschaftlerin über einen Zeitraum von zwei Jahren in 60 ausgewählten Haushalten der Mittelschicht in Neu-Delhi wiederholt lange Einzel- und Gruppeninterviews. In den meisten der befragten Haushalte lebten Frauen aus drei Generationen unter einem Dach, traditionelle Hausfrauen verschiedenen Alters, berufstätige Frauen, Schülerinnen und Studentinnen. Es erforderte viel Taktgefühl und Zeit, das Vertrauen der Gesprächspartnerinnen zu gewinnen und offene Antworten auf diese heiklen Fragen zu erhalten. Zusätzlich zu dieser eher ethnologischen Vorgehensweise führte Poggendorf-Kakar auch zahlreiche Gespräche mit den Experten für hinduistische Rituale: Priestern, Astrologen, Vertreterinnen und Vertretern von Göttinnen sowie Aktivistinnen der hindufundamentalistischen Parteien und führte eine Medienanalyse durch. "Eigentlich fand ich es erstaunlich, welch große Rolle die religiösen Inhalte auch heute noch spielen", sagt die Wissenschaftlerin. Die traditionellen Andachten und Reinheitsvorschriften sind so zeitaufwendig, dass sie kaum in ein hektisches Großstadtleben passen, in dem viele berufstätige Frauen bereits um vier Uhr aufstehen, um vor ihrem Aufbruch zur Arbeit noch das Essen für die Familie zuzubereiten. Auch das hinduistische Frauenideal, die Göttergattin Sita, deren größte Tugend die Demut ist, scheint nicht mehr zeitgemäß für die neue, gut ausgebildete und selbstbewusste Generation. "Dass alle indischen Frauen unterdrückt und gedemütigt sind, ist vielmehr ein westliches Klischee", sagt sie. Dennoch leben hinduistische Rituale fort, sind Kino- und Fernsehfilme über Göttermythen Straßenfeger, und bunte Comics über klassische religiöse Geschichten erzielen Höchstauflagen.

    In der Tat sind viele Inderinnen selbstbewusst und stolz auf das, was sie leisten. Sie sehen sich als Hüterinnen von Tradition und Moral und achten ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter sehr viel höher, als es westliche Frauen heute tun. "Anders als bei uns, kommt es selten zum offenen Bruch mit einer Tradition, die indische Lösung sieht mehr wie eine Erweiterung oder Dehnung traditioneller Vorstellungen aus", meint Poggendorf-Kakar. So wird zum Beispiel der traditionelle Fastentag Karva Chauth nach wie vor von der Mehrzahl der verheirateten Frauen praktiziert. Doch während die jungverheirateten Frauen früher unter der Aufsicht der Schwiegermütter streng vom Sonnenaufgang bis zum Aufgang des Mondes für die Gesundheit des Ehemanns beteten und weder Wasser noch Nahrung zu sich nahmen, wird Karva Chauth heute mehr als eine fröhliche Frauenpartie zelebriert. "Am Nachmittag trinken wir Cola und Fruchtsaft," erzählt eine junge Frau, andere gehen gemeinsam mit den Nachbarinnen in die Kosmetikstudios, wieder andere lassen sich abends von ihren Männern zum Essen ausführen, statt selbst mit knurrendem Magen schon mittags in der Küche das Essen zu kochen. Gleichwohl ist die Erzählung der religiösen Karva Chauth-Geschichte am Nachmittag der Höhepunkt des Tages geblieben.

    Trotz der betonten Flapsigkeit vieler junger College-Mädchen findet spätestens mit der Heirat immer noch eine Wandlung hin zu einer stärker praktizierten Religiosität statt. Denn die religiösen Rituale bieten Frauen auch Identifikation und Halt, indem sie betonen, wie wichtig der tägliche Einsatz der Frau für ihre Familie ist. Unverheiratet zu bleiben und alleine zu leben, ist auch heute und selbst in der Großstadt kaum eine Option für eine junge Frau.

    Wie sehr die Popularität einer Göttin von aktuellen sozialen Fragen abhängt, zeigt Poggendorf-Kakar am Beispiel der Göttin Santoshi-Ma. Diese vorher wenig bekannte Göttin stieg Mitte der siebziger Jahre urplötzlich durch einen Film zu einer Lieblingsgöttin vieler Mittelschichtsfrauen auf. "Das war ein so genannter B-Film, mit unbekannten Schauspielern und wenig Geld gedreht. Dass er so eingeschlagen hat, erklärt sich auch durch die Geschichte: Sie berührte die richtigen Fragen zur richtigen Zeit," sagt Poggendorf-Kakar. Der Film erzählt von einer jungen Frau, die klaglos und tapfer die Schikanen der Schwiegerfamilie erträgt und ihrem Mann trotz aller Widrigkeiten die Treue hält. Schließlich aber zieht sie mit ihm aus der Großfamilie aus und gründet einen eigenen, kleinen Haushalt, durch die Hilfe der Göttin Santoshi-Ma. Sogar mit der Schwiegermutter versöhnt sich die Heldin am Schluss, so dass sie sowohl die neue Intimität mit ihrem Mann genießen kann, als auch den Segen der alten Generation behält. Eine Traumlösung für den akuten Konflikt, unter dem bis heute viele Frauen leiden.

    Die Massenmedien Film und Comics haben die religiösen Überlieferungen homogenisiert, lokale Variationen der Mythologie gehen dabei zunehmend verloren, fand Poggendorf-Kakar. Das sei ein zweischneidiges Schwert, meint die Wissenschaftlerin. Während sich mit dem Einzug der Moderne und der Breitenwirkung der Massenmedien die Wünsche nach mehr Liberalität, nach freier Gattenwahl, nach Selbstbestimmung und Intimität Ausdruck verschaffen, werden in hindufundamentalistischen Kreisen verstärkt Abgrenzungen zu den anderen Religionen geschürt. Denn religiöse Filme in Indien sind keineswegs steife Predigten, sondern emotional zutiefst aufrüttelnd: Die Götter und Göttinnen tanzen, singen, vollbringen Wunder, und Götter-Darsteller können anschließend auf eine Karriere in der Politik hoffen. Die Bewegung zur Zerstörung der Moschee in Ayodhya 1992 wurde durch die Ausstrahlung der wöchentlichen Serien aus der "Ramayana" gestärkt, ist Poggendorf-Kakar überzeugt. In diesem großen Hindu-Epos besiegt der Gott Rama mit Hilfe des Affenkönigs Hanuman einen mächtigen Dämonen, um seine schöne Frau Sita zurückzuerobern. Die Rama-Anhänger rissen die Moschee nieder, weil Rama an dieser Stelle ein Tempel errichtet werden sollte.

    Die Dissertation von Katharina Poggendorf-Kakar liest sich streckenweise so lebendig wie ein Roman. Die Wissenschaftlerin lässt die Frauen selbst zu Wort kommen, stellt ihr Erleben in den Vordergrund und baut die Analysen darauf auf. Nun verhandelt die Wissenschaftlerin mit verschiedenen Verlagen, damit die Arbeit auch als Buch erscheinen kann. Katharina Poggendorf-Kakar wird das nächste Jahr an der Harvard-University über Asketinnen der Gegenwart forschen. "Was bedeutet der freiwillige Verzicht in unserer heutigen Gesellschaft?", fragt sie. Asketinnen führen das Credo unserer Gesellschaft ad absurdum, dass allein Konsum glücklich macht. Ein spannendes Thema in einer Zeit, in der überlieferte Religionen zumindest im Westen an Bedeutung verlieren, dafür aber esoterische und "Konsum-Angebote" florieren.

    Antonia Rötger

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Katharina Poggendorf-Kakar, Ceciliengärten 32, 12149 Berlin, E-Mail: Kathasudhir@hotmail.com


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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