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19.10.2001 12:15

Geschichte der Weiser, Lünetten und Nasenquetscher

Heidi Kurth Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Dissertation über historische Brillen am Institut für Geschichte der Medizin

    Sie wurden ans Kleid gesteckt wie eine schmückende Brosche oder griffbereit an einem Band um den Hals gehängt. Oder sie konnten im Handumdrehen in einem Gehäuse verschwinden, da sie, wie nützlich auch immer, in vornehmer Gesellschaft nicht wohlgelitten waren. Wer sie dennoch demonstrativ zur Schau stellte, deutete Nonkonformismus an. Die Geschichte der Sehhilfen, vom "Lesestein" des Mittelalters bis zur Designerbrille von heute, berichtet nicht nur von medizinischen und handwerklichen Entwicklungen. "Es ist zugleich eine Geschichte der Menschen, die durch sie blickten, und der Welt, auf die ihr Blick fiel", beschreibt Anja Kreßner die Thematik der Dissertation, an der sie arbeitet.

    Fotos und Beschreibungen, die sie angefertigt hat, füllen bereits mehrere Ordner. Darin festgehalten sind Brillen aus über 500 Jahren, darunter Formen, die heute ausgefallen wirken - mit Stielen, die wie Scherengriffe aussehen, oder mit komplizierten Klappmechanismen ausgestattet. Rätselhaft klingende Namen wie "Weiser" und "Lünette" werden genannt, während der spöttische Ausdruck "Nasenquetscher" den Laien schon eher auf die richtige Spur führt. Die altertümlichen Brillen haben etwas Anziehendes und Unterhaltsames an sich, doch ihr Wert geht weit darüber hinaus. Wer die Korrektur der Sehschärfe mittels optischer Hilfen durch die Jahrhunderte verfolgt, findet Entdeckungen und Innovationen, Moden und Traditionen widergespiegelt.

    Anja Kreßner kann sich bei ihren Forschungen auf eine Sammlung historischer Brillen stützen, die bislang neben anderen medizinischen Gerätschaften im "Depot Wissenschaftlicher Instrumente" des Germanischen Nationalmuseums schlummerte. Um die vergessenen Schätze zu heben, startete 1997 ein Kooperationsprojekt des Museums und des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Als erstes Teilprojekt betreut das Institut seit 1998 die medizinhistorische Doktorarbeit zur Katalogisierung und wissenschaftlichen Erschließung der Brillensammlung.

    Das "Medikohistorische Kabinett"

    Dass in Nürnberg ein Fundus historischer Brillen existiert, dessen älteste Exemplare aus dem Spätmittelalter stammen, ist den Nürnberger Ärzten Richard Landau und Max Emmerich zu verdanken, wie Dr. Marion Ruisinger vom Institut für Geschichte der Medizin erzählt. 1902 lancierten die beiden Mediziner einen Spendenaufruf, in dem sie sich an die gesamte deutsche Ärzteschaft wandten. Das Ziel ihres Appells war die Einrichtung eines "Medikohistorischen Kabinetts" im Germanischen Nationalmuseum. In den Folgejahren flossen Geld- und Sachspenden nach Nürnberg, und das Kabinett konnte 1904 eröffnet werden.

    Heute, nach zwei Weltkriegen und mehreren museumsinternen Umstrukturierungen, ist nur ein kleiner Teil des damals angesammelten Bestandes der Öffentlichkeit zugänglich. "Der Rest lagert seit Jahrzehnten im Depot des Museums", berichtet
    Dr. Ruisinger. Mit Anja Kreßners Forschungen, welche die in Nürnberg aufbewahrten historischen Sehhilfen systematisch erfassen und einordnen, wird ein erster Teilbestand aus seinem Schattendasein herausgeholt.

    Zur Katalogisierung bestimmt die Doktorandin das Material, aus dem die Fassungen bestehen - meist Horn oder Draht - und misst die optische Stärke der Gläser, falls diese noch vorhanden sind. Außerdem wird jede einzelne Brille aus drei festgelegten Perspektiven fotografisch dokumentiert. Die so gewonnenen Daten dienen als Grundlage für die zeitliche und stilistische Einordnung der Objekte, die, wie Anja Kreßner erfahren hat, nicht immer einfach ist.

    Vergeßlichkeit rettet historische Brillen

    Nicht nur allgemein geben die historischen Brillen Hinweise auf die Zeiten, zu denen sie getragen wurden; manch eine erzählt auch eine individuelle Geschichte. Bei der ältesten Brille der Sammlung, einer ledergefaßten Bügelbrille, ist es wohl der Vergeßlichkeit ihres letzten Besitzers zu danken, dass es heute möglich ist, eine ungewöhnlich exakte Datierung vorzunehmen. Sie fand sich in einem Sammelband aus dem später 15. Jahrhundert. "Offenbar war sie dem Buchbinder bei der Arbeit in den Bucheinband gerutscht. Später dürfte er seine Brille dann vergeblich gesucht haben", meint Anja Kreßner.

    500 Jahre später entdeckte ein Bücherantiquar in München die Brillenfassung - die Gläser hatten sich in der Zwischenzeit wohl durch die "Glaskrankheit" zersetzt - im Einband des Buches. Dass sie keinen Schaden genommen hatte, war der Tatsache zu verdanken, dass Bügelbrillen zwar einen Nasen-, aber keine Ohrenbügel besaßen.

    Auch die weltweit älteste erhaltene Sehhilfe, die heute in der Nähe von Celle zu bewundern ist, wurde gewissermaßen durch "menschliches Versagen" gerettet: Sie war im Zisterzienserinnen-Kloster zwischen den Dielenbrettern hindurch in den Zwischenboden gerutscht, wo sie 1953, rund 600 Jahre später, gefunden wurde.

    Eine Schatzkiste im Hochwasser

    Die Brillensammlung des Germanischen Nationalmuseums zeichnet sich durch ihren direkten Bezug zur lokalen Handwerksgeschichte aus. In Nürn-berg hatte sich 1478 der erste Brillenmacher niedergelassen. Das mag nicht besonders früh erscheinen, wenn man bedenkt, daß in Oberitalien bereits im 13. Jahrhundert Sehhilfen gefertigt wurden.
    Für den deutschsprachigen Raum wurde Nürn- berg dadurch jedoch zum ältesten Brillenmacherzentrum.

    Einer der letzten Nürnberger Brillenmacher, dessen Familie sich als "Brillengürtler" lückenlos bis 1634 zurückverfolgen lässt, fand Anfang des 20. Jahrhunderts bei einem Hochwasser im Keller seines Hauses eine Kiste mit Sehhilfen, die allen Anzeichen nach von seinen Vorfahren angefertigt und als Musterstücke aufbewahrt wurden. Die Nachricht von diesem einzigartigen Fund löste unter den historisch interessierten Augenärzten damals geradezu einen "Sammelboom" aus, der wesentlich dazu beigetragen hat, daß heute umfangreiche Kollektionen historischer Brillen erhalten sind.

    Scharf sehen - und scharf aussehen

    Zu den Brillenformen, die sich heute besonders eigentümlich ausnehmen, zählen die verschiedenen Varianten der Scherenbrille. Eine häufige Form bestand nur aus den Fassungsstielen der Gläser; eine zweite war zusätzlich mit einem Gehäuse ausgestattet, in das die Stiele eingeschwenkt werden konnten. In der Regensburger Brillenmacherordnung war mit dem "Weiser" ein Meisterstück vorgeschrieben, das einer Scherenbrille mit Gehäuse glich. Nur die Fassungsstiele waren kürzer, damit aber auch unbequem in der Handhabung, weshalb sich der Weiser wahrscheinlich im sechzehnten Jahrhundert nicht durchsetzten konnte. Um das Jahr 1750 begannen hauptsächlich die süddeutschen Brillenmacher Scherenbrillen mit längeren Armen herzustellen. Meist wurde die Fassung aus Horn und individuell variationsreich, nicht in Massenfertigung gestaltet.

    Ganz anders verhielt es sich mit dem "Nasenquetscher", der Drahtklemmbrille, deren Fassung aus einem Stück Draht gebogen wurde. Solche einfachen, preiswerten Brillen wurden in Nürnberg massenweise hergestellt und exportiert, vor allem nach der Erfindung der Drahtmühle Mitte des 17. Jahrhunderts, die den Herstellungsprozess ungemein beschleunigte. Als Fassungsmaterial diente anfangs Messingdraht, der später durch den billigeren versilberten Kupferdraht ersetzt wurde. Von erlesener Qualität - wie manche Lorgnetten, die als Schmuck getragen werden konnten - waren diese Drahtbrillen nicht; dafür aber waren sie erschwinglich.

    Heute gehört die Brille für viele ganz selbstverständlich zum Leben. Mancher steigt zwar vom "Nasenfahrrad" um auf die Kontaktlinsen, aber ganz gleich ob vor oder im Auge - missen möchten wir unsere Sehhilfen nicht mehr. Der Blick auf die lange Reihe ihrer ehrwürdigen Vorfahren könnte jedoch den Respekt vor den optischen Helfern noch steigern.

    * Kontakt:
    Anja Kreßner
    Dr. Marion M. Ruisinger
    Institut für Geschichte der Medizin
    Glückstraße 10
    91054 Erlangen
    Tel.: 09131/85 -23011
    Fax: 09131/85 -22852
    E-Mail: Marion.Ruisinger@gesch.med.uni-erlangen.de


    Weitere Informationen:

    http://www.gesch.med.uni-erlangen.de


    Bilder

    Scherenbrille
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Geschichte / Archäologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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