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14.12.2001 11:21

Große Sonnen oder kleine Wolken im Klassenzimmer

Heidi Kurth Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Kooperationsprojekt zur Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung von Erstklässlern

    Zuversichtlich und stolz gehen die meisten Kinder am ersten Schultag in die Schule. Wenig später sieht für einige Erstklässler die Welt schon wesentlich komplizierter aus. Sie erkennen, was sie im Vergleich zu ihren Mitschülern können, und müssen vielleicht erste Misserfolge verarbeiten. Die Lehrerin ist zu einer neuen wichtigen Bezugsperson geworden, und der Platz in der Klassengemeinschaft muss gefunden werden. Was das Selbstbild von Kindern im beginnenden Schulunterricht am stärksten formt, soll am Institut für Grundschulforschung nachvollzogen werden. Die Aufmerksamkeit gilt zwei vermutlich ergiebigen Einflussquellen: dem Klassenklima und der Lehrkraft.

    "Das Selbstwertgefühl der Kinder sinkt nach dem Eintritt in die Schule", konstatiert Dr. Gisela Kammermeyer, und ihre Kollegin Dr. Sabine Martschinke ergänzt: "Schon nach sechs Wochen lässt sich das feststellen." Die Jungen und Mädchen haben es erstmals mit festgelegten Lehrzielen zu tun und sind den Vergleich mit anderen noch nicht gewohnt. Sie kommen, wie es im Sprachgebrauch der Pädagogik heißt, "mit einem stark überhöhten Selbstkonzept" in die Schule.

    Diese allzu vertrauensvollen Vorstellungen in realistischere Bahnen zu lenken, ohne das Kind zu verunsichern, ist eine der wichtigsten erzieherischen Aufgaben im Anfangsunterricht. Denn die Erkenntnis: "Das kann ich nicht" braucht keine grundsätzlichen Selbstzweifel nach sich zu ziehen, wenn sie von der Überzeugung begleitet wird: "Das kann ich aber noch lernen." In dieser kritischen Phase der Persönlichkeitsentwicklung spielt vieles dabei mit, ob es gelingt, den Kindern auf ihren Weg durchs Leben ein starkes, stabiles Selbstwertgefühl mitzugeben. Was im Kopf der Lehrkraft abläuft, bleibt nicht ohne Folgen für die Kinder, so wie die Unterrichtsgestaltung und konkrete Interaktionen zwischen Lehrer und Schulkind dessen Leistungs- und Selbstkonzept beeinflussen. Die unmittelbare Lernumwelt, ein von der Klasse gemeinsam aufgebautes und geteiltes, wenn auch individuell unterschiedlich erlebtes Klima, ist bedeutsam für die Identität der Schüler, für Freude am Lernen und Angst vor Leistungsanforderungen.

    In mehreren Studien sind Einflüsse des Klassenklimas und der Lehrkräfte auf Leistung und Persönlichkeitsentwicklung von Schülern belegt, doch mit dem Schulbeginn hat sich bisher noch keine derartige Untersuchung befasst. Gerade hier rechnen Dr. Martschinke und Dr. Kammermeyer mit deutlichen Einflüssen auf die Identitätsentwicklung. Um möglichst vollständig zu erfassen, was auf die jüngsten Schülerinnen und Schüler einwirkt, entschlossen sich die beiden Wissenschaftlerinnen vom Nürnberger Institut für Grundschulforschung, die Perspektiven der Kinder und der Lehrerinnen gleichzeitig und gleichwertig einzubeziehen.

    Erreicht wird dies durch zwei DFG-geförderte Projekte, die eigenständig ablaufen, aber eng miteinander verschränkt sind. Die Forschungen zur "Bedeutung des Lehrers für die Leistungs- und Selbstkonzeptentwicklung im Anfangsunterricht" und zur "Bedeutung des Klassenklimas für die Identitätsentwicklung im Grundschulalter" greifen auf Daten zurück, die zueinander in Beziehung gesetzt werden können. 32 Klassen aus dem mittelfränkischen Raum mit insgesamt über 400 Erstklässlern wurden einbezogen.

    Die Lehrerinnen dieser Klassen waren bereit, in Interviews zu ihren Zielen, Erwartungen und anderen handlungsleitenden Orientierungen, die als "Subjektive Theorien" zusammengefasst werden, Auskunft zu geben. Außerdem führten sie Buch über die Unterrichtsgestaltung an 30 Tagen im vergangenen Schuljahr und beantworteten Fragen zum Umgang mit einzelnen "Zielkindern". Dieselben Kinder, jeweils acht pro Klasse, nehmen an der Studie zum Klassenklima teil, die wie die Lehrerstudie im September 2000 begann, aber im Gegensatz dazu im zweiten Schuljahr, eventuell sogar länger fortgesetzt wird. In zehn der 32 Klassen werden nicht nur ausgewählte Schüler befragt, sondern alle.

    Die zwei kooperierenden Studien sind als Längsschnittstudien konzipiert. Einen längeren Zeitraum zu wählen, bietet sich an, wenn Entwicklungen verfogt werden sollen. Die Datensammlung ist so angelegt, dass Rückschlüsse auf Einzelpersonen wie Klassengesamtheiten möglich sind. Dass kein fremder Beobachter im Schulzimmer sitzt, sondern Schüler und Lehrer ihre Wahrnehmungen schildern, passt zu den Fragen, die die Projektleiterinnen interessieren. "Erfahrungsgemäß antworten die Lehrkräfte sehr offen und selbstkritisch", fügt Gisela Kammermeyer hinzu.

    Auch die Kinder führen Tagebuch, doch in einer ihnen gemäßen Form: sie entscheiden sich zwischen großen und kleinen Sonnen oder Wolken, um das Klassenklima zu kennzeichnen. Wenn sie nach dem schulischen Erfolg gefragt werden, veranschaulicht ein Gesicht die Antwort, dessen Ausdruck von "missmutig" bis "begeistert" verstellbar ist. Ein Spiel mit Handpuppen erleichtert die Selbsteinschätzung, und die Voraussetzungen zum Erlernen der Schriftsprache zeigen sich beim "Rundgang durch Hörhausen". Da die Erstklässler anfangs weder lesen noch schreiben können, waren solche neuen Befragungsmethoden nötig. Die Kompetenz und die Ernsthaftigkeit der jungen Auskunftspersonen wird deshalb nicht geringer geschätzt. "Weißt du was", zitiert Sabine Martschinke aus einem Interview mit einem Jungen, "deine Fragen sind ganz schön schwer - aber sie gefallen mir!"

    Mit den Auswertungen werden die Projektleiterinnen und ihre Mitarbeiterinnen Angela Frank und Christine Mahrhofer noch einige Zeit beschäftigt sein. Bereits jetzt sind die weit auseinanderklaffenden Eingangsniveaus der Klassen aufgefallen. So gab es in jeder der zehn voll erfassten Klassen sowohl Kinder, die ohne jegliche Buchstabenkenntnis in die Schule kamen, als auch solche, die bereits alle Buchstaben kannten und jeweils den richtigen Laut zuordnen konnten. In einer bestimmten Klasse hatten zum Schulanfang nur zwei Kinder ein eher negatives Bild von den eigenen Leistungen im Schriftspracherwerb, während in einer anderen Klasse 16 Kinder und damit zwei Drittel an ihren Fähigkeiten zweifelten. Wie sich das Unterrichtsklima bei so unterschiedlichen Ausgangsbedingungen entwickelt und wie die Lehrerinnen darauf reagieren, ist einer der Schwerpunkte der derzeitigen Auswertungsarbeiten.

    Weitere
    Informationen

    Dr. Sabine Martschinke
    Tel.: 0911/5302 -530 semartsc@ewf.uni-erlangen.de
    Dr. Gisela Kammermeyer
    Tel.: 0911/5302 -530 gakammer@ewf.uni-erlangen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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