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08.08.2011 14:10

Gleisgeschichten: Günter Grass und eine Düsseldorfer Straßenbahnlinie

Rolf Willhardt Stabsstelle Kommunikation
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

    Zur Zeit finden umfangreiche Bauarbeiten an einer Düsseldorfer Straßenbahnlinie statt. Das ist nicht näher erwähnenswert. Die Strecke hat jedoch eine eigene Geschichte.

    „ Rheinbahn erneuert Gleise und Weichen an Moorenplatz und Witzelstraße vom Samstag, 6. August, bis Montag, 15. August - Wartezeiten und Verzögerungen sind zu erwarten.“

    Soweit die Pressemeldung des Universitätsklinikums vom 28. Juli 2011. Und weiter: „Straßenbahnen und Busse können nicht wie gewohnt zwischen den Haltestellen ‚Auf’m Hennekamp’ und ‚Südpark’ fahren. Betroffen sind davon die Haltestellen ‚Uni-Kliniken’, ‚Moorenstr.’, ‚Südpark’ und ‚Universität Ost / Botanischer Garten’“.

    Eine Düsseldorfer Straßenbahnlinie, die im Werk (und im Leben) eines deutschen Autors eine besondere Rolle spielt. Sein Name: Günter Grass.

    In der 2006 erschienenen Autobiographie „Bei Häuten der Zwiebel“ widmet der Nobelpreisträger seiner Zeit in Düsseldorf von 1947 bis 1952 zwei Kapitel und einhundert Seiten. Hier lernte er die Kunst, den Jazz und vieles mehr kennen. Markante Lokalitäten rund um den heutigen Campus: der Bittweg, wo nun Studentenwohnheime stehen, die Städtischen Krankenanstalten, das spätere Universitätsklinikum, - und die Straßenbahngleise zwischen der Innenstadt und dem Vorort Benrath. Sie vergaß Grass offenbar nie. Aus mehrerlei Gründen. Einer davon war nicht besonders schmeichelhaft.

    Vorab ein Zitat aus der „Blechtrommel“ (1959) und nicht aus der Biographie: „Mit Straßenbahnen, die vom Bilker Bahnhof in Richtung Wersten und Benrath fuhren, konnte man bequem, ohne umsteigen zu müssen, die Städtischen Krankenanstalten erreichen. Herr Matzerath lag dort von August fünfundvierzig bis Mai sechsundvierzig.“

    Pfleger Bruno erzählt die Geschichte des Oskar Matzerath. Den Roman beginnt der Patient selbst: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.“
    Es ist der Anfang einer der berühmtesten Krankengeschichten der deutschen Literatur. Auch eine Düsseldorfer Geschichte. Denn weite Passagen aus Günter Grass Welterfolgen „Die Blechtrommel“ und später, anschließend in der „Danziger Trilogie“, den „Hundejahren“ (1963), spielen im Rheinland.
    Der 19-jährige Kriegsheimkehrer möchte an der Düsseldorfer Kunstakademie studieren, wird aber von einem schrulligen Professor erst einmal weggeschickt („Wir haben wegen Kohlenmangels geschlossen.“) und zum Arbeitsamt verwiesen, das ihm eine Praktikantenstelle als Steinmetz und Steinbildhauer vermitteln soll („Dem Handwerk fehle es nicht an Arbeit. Grabsteine seien jederzeit gefragt.“).

    Grass in seiner Biographie: „Gleich im ersten Betrieb, in dem ich nahe dem Werstener Friedhof vorsprach, blieb ich hängen (…).“ Er kommt unter in der Firma von Julius Göbel, Witzelstraße 142, gleich gegenüber den Städtischen Krankenanstalten. Göbel besorgt ihm eine Schlafstelle im Caritas-Heim Düsseldorf-Rath.

    „Von der Haltestelle Bittweg, den, wie gesagt, mehrere Steinmetzbetriebe säumten, so die auf Sandstein und Basalt spezialisierte Firma Moog, die in der ‚Blechtrommel’ als Großbetrieb C. Schmoog firmiert, war mein zukünftiges Zuhause mit der Straßenbahn leicht und nach nur einmal Umsteigen am Schadowplatz zu erreichen.“

    Neben dem zeitüblichen Kohldampf plagen den jungen Grass aber noch andere Bedürfnisse: „Der dritte Hunger“.

    Mit täglichen Folgen beim Straßenbahnfahren. „Gesättigt von der morgendlichen Milchgriessuppe, nagte nun vorlaut der andere Hunger. Und das Tag für Tag. Immer war ich geniert und in Furcht, es könnte das sperrige Ding bemerkt, als anstößig belästigend empfunden, mehr noch, laut als Ärgernis beschimpft werden. Aber kein Fahrgast in Rock und Bluse, dem ich zu nah stand, hat sich empört. (…) Erst angesichts der Grabsteine, die auf den Vorplätzen der Steinmetzbetriebe am Bittweg auf Hochglanz poliert in Reihe standen (…) verging mir der halbstündige Erregungszustand der allmorgendlichen Straßenbahnfahrten.“

    Die Frau seines Meisters hält in diesen Tagen eine Ziege.
    „Sobald den Bittweg lang alles Grünzeug und selbst die Brennesseln abgegrast waren, blieb als Weide nur noch der Bahnkörper der Straßenbahnlinie, die nach Wersten und weiter nach Holthausen führte. Beiderseits des Schienenstranges gab es Futter vorrätig für Tage.
    (…) Mir jedoch steigerte sich der Gang mit der Ziege, die überdies Genoveva gerufen wurde, zur Pein. Überhaupt und der Zuschauer wegen. Es zogen sich nämlich parallel zum Gleiskörper und hinter Bäumen versteckt die Gebäude der Städtischen Krankenanstalten hin; wie ja nicht selten Hospitäler in der Nähe von Friedhöfen und Grabsteingeschäften ihren Ort haben.“

    Die Straßenbahnstrecke von damals existiert immer noch, Generationen von Studenten und Menschen, die im Universitätsklinikum arbeiten oder behandelt werden, kennen sie.

    Und nun, in diesen Augusttagen 2011, wird sie erneuert.
    Die Flirt-Versuche des jungen Grass sind im übrigen nur mäßig erfolgreich.
    „Gerne ergingen sich in der Mittagszeit Krankenschwestern einzeln oder in fröhlichen Gruppen unter den Bäumen. Ach, wie sie zwitscherten! Mein Anblick, junger Mann mit störrischer Ziege, war ihnen nicht nur ein Lächeln wert.“
    Er kommt sich als Witzfigur vor, unbeholfen „war ich die Zielscheibe spitzer Worte“, „das komisch-traurige Anhängsel einer widerborstigen Ziege mit baumelndem Euter.“

    Der Romanheld und Psychiatriepatient Oskar in der „Blechtrommel“ hingegen hat ungeheuren Erfolg beim weiblichen Pflegepersonal der Städtischen Krankenanstalten, er wird zum Erotomanen („Oskar aß in jener Zeit sehr viel frische Blutwurst mit Zwiebelringen und trank Bier dazu, damit sein Freund Klepp glaubte, Oskars Leid heiße Hunger und nicht Schwester Dorothea.“). „Ach“, seufzt Grass neidisch in seiner Biographie, „hätte ich doch nur seinen Witz gehabt!“

    Und dann passiert es. Ein nahezu traumatisches Erlebnis neben den Straßenbahnschienen vor den Krankenanstalten, - Peinlichkeit pur.

    „Hinzu kam, dass mich Pech zu verfolgen schien. Denn einmal, als ich bereits ein nettes Wort für eine vereinzelt spazierende Krankenschwester mit madonnenhaftem Gesicht auf der Zunge hatte und weitere Schmeichelwörter in Reserve hielt, begann die mir aufgehalste Ziege laut und lange zu pissen. Was tun? (…) Wie unbeteiligt erscheinen? Alles vergeblich. Das Pissen der Milchziege Genoveva wollte und wollte nicht enden. Aufs Lächerlichste gepaart, gaben wir ein jämmerliches Bild ab.“

    Am 1. Januar 1953 verließ Günter Grass Düsseldorf und fuhr mit dem Interzonenzug nach Berlin.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    fachunabhängig
    regional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

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