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14.02.2002 08:55

Harry Potters Urahnen

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Judaisten der Freien Universität Berlin erforschen ein antikes Zauberbuch.

    "Buch der Geheimnisse" - ein Titel, der für sich spricht. Geheimnisvoller klingt dagegen der Name des Originalwerkes: Sefer ha-Razim. Das ist hebräisch und heißt doch nichts anderes. Womit das erste Geheimnis schon gelüftet wäre. Zugegeben ein bescheidenes Geheimnis angesichts der in diesem klassischen Werk der jüdischen Magie zu entdeckenden Beschwörungsformeln, der verschlungenen Liebes- und Heilungszauber, der verschiedenen magischen Anwendungen, die beispielsweise helfen sollen im Pferderennen zu gewinnen oder den Ofen zu befeuern. Für die Wissenschaft mindestens ebenso obskur ist die Überlieferung dieses spätantiken Zauberbuchs. Es kursierte in unzähligen Versionen und Abschriften, wurde dann im Mittelalter ins Lateinische übersetzt und seit der Neuzeit auch in englischen, französischen, deutschen und tschechischen Übertragungen und Bearbeitungen gelesen. Die Geheimnisse um die Überlieferung und Rezeption des Textes versucht ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Peter Schäfer am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin derzeit zu lösen. In zwei bis drei Jahren sollen die Texte in einer synoptischen Edition mit deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar zur Verfügung stehen.

    Die Berliner Forscher haben Erfahrung in der wissenschaftlichen Arbeit mit magischen Texten. Als sich der Leiter des Instituts, Professor Peter Schäfer, vor einigen Jahren mit der Herausgabe von Texten zur frühjüdischen Mystik beschäftigte, den so genannten Hekhalot-Texten, wurde deutlich, dass diese Mystik nicht frei von Magie war. So begann man eine repräsentative Auswahl magischer Texte herauszugeben. Drei Bände sind bis heute erschienen. Dabei wurde schnell klar, wie lohnend es wäre, verschiedene Versionen, Abschriften und Übersetzungen eines einzigen solchen Textes miteinander zu vergleichen.

    Die Wahl fiel auf den zentralen und wichtigsten Text jüdischer Magie: das Buch der Geheimnisse. Die zahlreichen Abschriften erweisen die Bedeutung des Textes, der schon in seinem ältesten Stadium eine enge Verflechtung der jüdischen Kultur mit ihrer hellenistischen Umwelt in der Spätantike bezeugt: Nicht nur Lehnwörter aus dem Griechischen, sondern sogar eine komplette Beschwörung des griechischen Sonnengottes Helios wurden aus griechischen Zaubertexten entnommen. Der Aufbau des Buches mit einer Vorrede und sieben Kapiteln ist dem ptolemäischen Weltbild mit seinen sieben Planetensphären entlehnt. Dieses durch kosmologische Traditionen bestimmte literarische Gerüst wurde mit angelologischen und magischen Texten gefüllt.

    Die sieben Kapitel entsprechen den sieben Himmeln, in denen sich jeweils verschiedene Gruppen von Engeln tummeln - außer im letzten Himmel, dem siebten Himmel, der Gott vorbehalten ist. Peinlich genau wird der jeweilige Himmel in der Einleitung jedes Kapitels topographiert. Danach werden die verschiedenen Engel oder Engelsgruppen mit ihren jeweiligen speziellen Fähigkeiten genannt. Jeder Gruppe von Engeln sind verschiedene magische Anwendungen zugeordnet: Wie in einem Handbuch kann der eines Zaubers Bedürftige nachschlagen, welcher Engel ihm bei welcher Anrufung und welchen Verrichtungen mit seinem Zauber zur Seite steht. Der Engel Razi'el, der den Menschen das Sefer ha-Razim offenbart hat, besitzt noch heute im orthodoxen Judentum eine solche Bedeutung, dass man dort das ihm zugeschriebene Sefer Razi'el ha-Mal'akh, ein Buch, das auch Auszüge aus dem Buch der Geheimnisse enthält, als Amulett zum Schutz vor Bränden verwendet. Auch ein Bestseller in esoterischen Kreisen, das Mafteach Shlomo, der sogenannte "Schlüssel Salomos", ist mit Zitaten aus dem Buch der Geheimnisse gespickt.

    Glaubt man der Überlieferung, geht die Bedeutung dieses Buches aber weit über diesen Alltagsgebrauch hinaus. Angeblich lernte Noah "aus der Weisheit dieses Buches", wie er seine Arche zu bauen hätte. Bei seinem Tode übergab er es an Abraham, Abraham an Isaak, Isaak an Jakob und so weiter, denn nichts ist für die Glaubwürdigkeit wichtiger gewesen als eine lückenlose Genealogie. Wie auch immer, manche Versionen nennen auch Adam anstatt Noah als denjenigen, dem das Buch übergeben und offenbart wurde. Letztendlich landete es beim König Salomo, in dessen reichhaltiger Bibliothek das Sefer ha-Razim "das teuerste, geehrteste, größte und schwierigste von allen" war. Nicht zuwenig Superlative für ein Buch, dessen magische Anwendungen auf den ersten Blick zumindest überraschend erscheinen: "Wenn Du eine reiche, mächtige und schöne Frau zu dir bringen möchtest, die dich lieben wird, nimm vom Schweiß deines Gesichts und gib ihn in ein Glasgefäß." Nachdem man einige weitere Verrichtungen vollführt hat und den mitgelieferten Zauberspruch, samt Anrufung der Engel der Huld und Gnade und der Wissenschaft gesprochen hat und das Gefäß bei Vollmond unter die Türschwelle der begehrten Dame gestellt hat, steht dem Liebesglück nichts mehr im Wege: "Tags und nachts, vom heutigen Tage an und weiter." Ob solche Zauber tatsächlich gewirkt haben, weiß aber auch Bill Rebiger, der Koordinator der Arbeitsgruppe, nicht.

    Wer die Magieforscher in ihrer Dahlemer Villa besucht, den erwartet nicht ein faustisches Studierzimmerchen, sondern zwei nüchterne Büroräume mit vier Arbeitsplätzen und Computern. Trotz der modernen Atmosphäre ist das Streben nach Erkenntnis ungebrochen. Bereits seit über zwei Jahren stöbert die vierköpfige Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Peter Schäfer in Klein- und Kleinstarbeit auf der ganzen Welt Abschriften, Zitate und Fragmente ihres schmalen Zauberbuchs auf. In Jerusalem, New York, Oxford, Cambridge und Tel Aviv waren sie schon, Moskau, Paris und Florenz warten noch auf den Besuch von Rebiger oder seiner Kollegin Evelyn Burkhardt. Neben diesen beiden arbeiten auch noch zwei studentische Hilfskräfte im Projekt mit. "Vollkommen gleichberechtigt und eigenverantwortlich, übrigens", wie Rebiger die Zusammenarbeit beschreibt. Doch wieso die langen Reisen zu den Originalen, wenn sich in Jerusalem eine fast vollständige Sammlung aller bekannten hebräischen Handschriften in Mikrofilmform befindet? Für eine profunde Edition solcher Texte gibt es gute Gründe, das Original aufzusuchen: "Erst am Original lassen sich undeutliche Buchstaben, Glossen oder Korrekturen mit letzter Sicherheit bestimmen, da reichen Mikrofilmkopien nicht", erläutert Rebiger die Reiselust, deren Ziel immer ein mehr oder minder staubiges Bibliotheksarchiv ist. Es müssen für die Edition etwa 50 fragmentarisch erhaltene Manuskriptseiten, 16 vollständige hebräische Handschriften, sieben Textzeugen der lateinischen Übersetzung und etwa 20 weitere magische Sammelhandschriften ausgewertet werden. Letztendlich müssen sieben oder acht Versionen ausgewählt werden, die dann in der Edition nebeneinanderstehen. Die Versionen differieren vor allem in der Zusammenstellung einzelner Passagen, doch gerade diese Abweichungen, z.B. die Hinzunahme von Texten aus anderen Traditionen, machen die Gegenüberstellung interessant. Der Computer hilft mit dem Programm TUSTEP, einer seit den 70er Jahren speziell für die Edierung hebräischer Texte entwickelten Software, die Texte zu vergleichen und beschleunigt so die Sysiphos-Arbeit der Forschungsgruppe.

    Einen Spruch, um sich die Arbeit fertig zu hexen, gibt es leider nicht im Buch der Geheimnisse. Bill Rebiger bleibt in dieser Hinsicht auch lieber auf dem Boden der Wissenschaften, denn da ist der Erfolg gewiss. Und wer weiß schon, was statt der Arbeit bei einer entsprechenden magischen Anwendung zu tun wäre? Wer romantisch zu Mond und Sternen sprechen möchte, muss vorher - ganz unromantisch - einen weißen Hahn schlachten und mit dessen Blut drei Kuchen backen und in die Sonne stellen. Man sieht: Vor dem Erfolg steht der Schweiß, auch bei Zauberbüchern.

    Niclas Dewitz

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Bill Rebiger, Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin, Fabeckstr. 27, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-56532, E-Mail: rebiger@zedat.fu-berlin.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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