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11.04.2002 14:51

Schaulust und Verbrechen - Wenn der Wissenschaftler zum Detektiv wird

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    FU-Germanistin schreibt die Geschichte des Krimis als Mediengeschichte neu.

    Der Krimi - ein Randphänomen in der Literaturwissenschaft, ein Seitenstrang der Ästhetik des Grauens? Nicht für die frisch promovierte Germanistin Gabriela Holzmann. Ihre an der Freien Universität entstandene und mit dem Ernst-Reuter-Preis der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin ausgezeichnete Dissertation "Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte" stellt den Krimi nicht nur in den Mittelpunkt des literaturwissenschaftlichen Interesses. Sie rekonstruiert eine systematische Gattungsgeschichte des Kriminalromans, die das Genre in seinen ästhetischen, kulturellen und vor allem mediengeschichtlichen Kontexten erschließt.

    Methodisch versetzt sich die Wissenschaftlerin dabei selbst in die Rolle des Detektivs, beachtet Details, die bisher übersehen worden sind, entziffert in der Krimisprache steckende Indizien für neue Schreibtechniken und Dramaturgien. Ihre Analyse setzt bei den historischen und psychologischen Voraussetzungen der Schaulust im 18. und 19. Jahrhundert ein. Der Überblick reicht vom offensichtlichen Strafschauspiel über die Ästhetik des Grauens bis zu Edgar Allen Poes Schauerkrimis. Darauf aufbauend untersucht sie im Rückgriff auf Medientheorie und Filmgeschichte die Modi der Spurensicherung, der Identifizierungstechniken, die Funktionen des künstlichen Lichts, der Gewaltwahrnehmung und des Gewalterlebens.

    Holzmann beabsichtigt keine starre Systematik des Krimigenres zu entwerfen. Vielmehr soll der Rahmen beweglich bleiben, eingrenzen nur über die Beobachtung verschiedener Aspekte detektivischer Blick-Formationen, sprachlicher und filmischer Details. Entscheidend erweitert Holzmann die Perspektiven auf den Krimi über ihre zentrale Frage nach den medial geprägten Strukturen der Texte: Wie haben die technischen Umbrüche in den Jahren 1850 bis 1950 die Wahrnehmung von Wirklichkeit beeinflusst? In welcher Weise veränderte sich damit auch die filmische und literarische Darstellung?

    Vom Gaslicht zum elektrischen Licht, vom Stummfilm zum Tonfilm, vom Schwarz-Weiß-Film zum Farbfilm, vom Kino zum Fernsehen - immer wieder sind es technische Revolutionen, die sich auch in der Sprache des Krimis niederschlagen. "Seit Photographie und Kinematographie mit ihren optischen Sensationen locken, lassen sich Autorinnen und Autoren von deren sinnlichen Reizen und Erlebnisqualitäten anregen", erklärt die Nachwuchswissenschaftlerin. Die Darstellungen zielen immer stärker auf unmittelbare Effekte der Wahrnehmung ab: "Die ein Verbrechen vermuteten, hatten sich leider nicht getäuscht. [...] vor dem Kamin lag, das Gesicht in der erloschenen Glut, der Leichnam der Witwe Lerouge." Wo der Leser zum Voyeur wird und wo der Leichenfund nicht nur erzählt, sondern als Entdeckung des Lesers vorgeführt wird, da entpuppt sich die Gewaltdarstellung im Kriminalroman als mediales Ereignis.

    Weshalb gerade der Medieneinfluss auf den Krimi so groß war, beruht nach Holzmann auf der Tatsache, dass der Krimi in seiner Struktur dem Film entgegenkommt: In beiden geht es um den engen Zusammenhang von Sehen und Erkennen. Das Detektivspiel hängt, wie Holzmann darlegt, vom Spiel mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren ab, es basiert auf den Strategien des Wiedererkennens, auf den Prinzipien von Ver- und Enthüllung, der Faszination am Grauen und der Schaulust.

    Doch geht es Holzmann nicht nur darum, zu zeigen, wie der Film den kriminalistischen Enthüllungsprozess in eine Bildersprache umsetzt und diese wieder auf die Schreibpraxis des Krimis zurückwirkt. Ihre Ausgangsüberlegung ist vielmehr, dass optische Hilfsmittel Sehweisen verändern. Mit Erfindung der Lupe, der Photographie oder Kamera wird nach Holzmann eine neue Realitätserfahrung möglich. Am Sehen mit technischen Geräten entwickelt sich auch das detektivische Sehen zum Wesensmerkmal kriminalistischen Schreibens. Den detektivischen Blick versteht Holzmann als einen beiläufigen, der an zufälligen Einzelheiten hängen bleibt, noch bevor sich für den Beobachter ein Sinnzusammenhang im Puzzle des Tathergangs ergeben hat. Der Blick des Detektivs, betont Holzmann, erweist sich als das genaue Gegenteil des romantischen Blicks, der sich kontemplativ nach Innen richtet. Das detektivische Sehen ist ein nicht wertendes, nicht selektierendes, ein Sehen, das ohne Emotionen die äußere Situation bis in jedes Detail registriert. "Aus den Augenwinkeln heraus kann der Detektiv auch Randphänomene erfassen, die vermeintlich unbedeutenden Details, die zur Lösung eines Falles führen." Genau darin unterscheidet er sich für Holzmann vom starr fixierenden Teleskopblick des Forschers, der sich auf einen Mittelpunkt konzentriert, Flüchtiges oder Disparates aber nicht aufnimmt.

    Ausgehend von Kracauers Theorie des Films konstatiert Holzmann zugleich einen "photographischen oder filmischen Blick", der sich immer stärker in der Sprache des Kriminalromans etabliert. Wie der Detektiv sehen muss, um die Situation auf potenzielle Indizien zu prüfen, so ist die Linse der Kamera beschaffen: Sie zeichnet die Oberfläche der Wirklichkeit getreu ab wie sie ist. Dem persönlichen Blick hingegen sind die Alltagsgegenstände selbstverständlich geworden. Dies macht ihn blind für Details, die sich verändert haben. Entsprechend werden in den Texten Szenarien geschildert, in denen scheinbar nebensächliche Anmerkungen oder Beschreibungen auftauchen. Je genauer deshalb die Momentaufnahme des Szenariums sich darstellt, desto stärker ist der Leser mit dem Detektiv gefordert, zwischen den Zeilen zu lesen. "Weniger die Fußspuren im Garten als die fehlenden Erdreste im Haus, weniger die Brille als die nicht getragene Brille, weniger die verstaubten Bücher im Regal als das einzige, das keine Staubschicht trägt, werden bedeutsam und wecken die Aufmerksamkeit des Detektivs", erklärt Holzmann. Dieser "mikrologische" Blick von Detektiv und Kamera, der sich im Schreibstil wiederholt, erfasst gerade das spannungsgeladene Element des Nicht-Sichtbaren im Krimi.

    Eine weitere Errungenschaft der Technik, das elektrische Licht, hat nach Holzmann die Darstellungsweise in Film und Literatur nicht weniger nachhaltig geprägt. In ihrer Untersuchung der ästhetischen und dramaturgischen Verwendung der künstlichen Beleuchtung weist sie im Film eine komplexe Ikonographie des Lichts nach. Licht und Schatteneffekte intensivieren zum Beispiel in dem expressionistischen film noir "Der Schatten" (1918) von Erwald André Dupont die Emphase des Schreckens, die Lust am Grauen. Im psychologischen Krimi umschreibt die Hell-Dunkel-Metaphorik hingegen Bewusstseinszustände, erzeugt verschiedene Perspektiven, Schein- und Traumwelten. Es entsteht eine "Lichtpoetik", die sich, wie die Autorin nachweist, auch in der Schreibpraxis entfaltet.

    Festzustellen ist am Schluss der umfassenden Analyse: Die Handlungsabläufe des konventionellen Krimis weichen durch den Einfluss der Medien mehr und mehr auf. In den 1940er und 50er Jahren häufen sich die Schreibtechniken der Montage, der Detaildarstellung und elliptischen Erzählweise. In diesen Krimis irrt der Detektiv durch ein Labyrinth von unauflöslichen Rätseln, in die er sich selbst und den Leser verstrickt. Hier erscheint der Krimi als verwirrendes Konstrukt, das keine aufklärerische, sondern eine mythische Dimension in die Erzählung hineinträgt. Der Fall bleibt ungeklärt - die Geschichte des Krimis im Spiegel der Medien ist jedoch am Ende der Untersuchung um vieles deutlicher geworden.

    von Irmelin Ehrig

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Gabriela Holzmann, Tel.: 0341 / 2396210, Mobil: 0179 / 4758774


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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