idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
02.04.2012 12:10

Grundschüler lernen Rechnen durch Schätzen

Dr. Ulrich Marsch Corporate Communications Center
Technische Universität München

    Grundschüler lernen im Mathematikunterricht überwiegend, exakte Ergebnisse zu errechnen. Im Alltag ebenso wichtig ist die Fähigkeit, Größenordnungen von Zahlen ungefähr abschätzen zu können. Die Förderung dieser Kompetenz wird aber in den ersten beiden Klassen oft als vermeintlich zweitrangig vernachlässigt. Eine Studie von Bildungswissenschaftlern der Technischen Universität München legt nun nahe, dass im Gegenteil das Zahlgefühl als Grundlage für ein umfassendes mathematisches Verständnis dienen kann: Erstklässler, deren Zahlgefühl gefördert wurde, verbesserten sich auch beim exakten Rechnen – und zwar genauso stark wie Klassenkameraden, die den exakten Umgang mit Zahlen trainiert hatten.

    Der Mathematikunterricht ist zu Beginn der Grundschule in erster Linie darauf ausgerichtet, Ergebnisse für Aufgaben wie 4+6 zu ermitteln. „In der Mathematikdidaktik steht meist das richtige Ergebnis im Mittelpunkt“, sagt Dr. Andreas Obersteiner vom Heinz Nixdorf-Stiftungslehrstuhl für Didaktik der Mathematik. „Eine gute Zahlenvorstellung hat aber nur, wer Größenordnungen auch ohne exakte Berechnung einordnen kann.“ Dass etwa die Differenz von 85 zu 100 geringer ist als die zu 25, ist ohne nachzurechnen nur für diejenigen Kinder selbstverständlich, die eine solche Vorstellung entwickelt haben. Diese hilft wiederum dabei, Strategien für das exakte Rechnen zu entwickeln – etwa dass es leichter sein kann, statt +19 im Kopf +20-1 zu rechnen. Neuropsychologen gehen davon aus, dass die Fähigkeit Zahlen zu schätzen schon bei der Geburt angelegt ist, weil Säuglinge bereits gewisse Mengen unterscheiden können. „Die Frage ist deshalb, ob nicht die Förderung dieses Zahlgefühls die Basis des Mathematikunterrichts sein sollte“, sagt Obersteiner.

    Die Bildungswissenschaftler der TUM haben 200 Erstklässler mehrerer Schulen vier bis fünf Wochen lang unter die Lupe genommen. Mit einem Computerlernprogramm übte eine zufällig gebildete Gruppe zusätzlich zum üblichen Unterricht den sogenannten approximativen Umgang mit Zahlen, eine andere das exakte Rechnen. Bei ersterer standen Überschlagsrechnen, Schätzen und Zahlenvergleiche auf dem Stundenplan – Aufgaben, die im Unterricht sonst nur am Rande behandelt werden. Die Schüler bekamen etwa die Rechnung 2+6 sowie zwei verschieden große Punktmengen angezeigt. Spontan sollten sie festlegen, welcher Menge das Ergebnis der Rechnung näher kommt. In anderen Aufgaben sollten sie die Zahl angezeigter Punkte schätzen oder unter Zeitdruck angeben, ob 13 größer als 17 ist. „Erstklässler, die keine Zahlvorstellung entwickeln, müssten dabei erst die Zahlenreihe ab 1 durchgehen“, erklärt Obersteiner. Die andere Gruppe sollte die exakten Ergebnisse der Rechnungen ermitteln und die exakte Anzahl der Punkte feststellen, die sie in der festen Struktur eines 5er-Schemas angezeigt bekamen.

    Vor und nach der Förderperiode testeten die Wissenschaftler die Kompetenz der Schüler im Umgang mit Zahlen. Die Kinder mussten etwa fehlende Stellen in einem Zahlenstrahl ersetzen, aber auch Rechenaufgaben mit exakten Ergebnissen lösen. Zu ihrer Überraschung stellten die Didaktiker fest: Beide Gruppen hatten einen gleich großen Lernfortschritt erzielt. „Diese Erkenntnis untermauert die These, dass das Gefühl für Größenordnungen fundamental für das mathematische Verständnis ist“, sagt Projektleiterin Prof. Kristina Reiss. „Die Kinder lernen gewissermaßen Rechnen, indem sie Schätzen üben. Wir sollten deshalb den approximativen Umgang mit Zahlen in der Grundschule gezielt fördern, statt darauf zu setzen, dass sich ein Zahlgefühl beim exakten Rechnen von selbst einstellt.“

    Dass eine solche Förderung notwendig ist, zeigen frühere Studien. Diese haben ergeben, dass ein größerer Teil der Dritt- und Viertklässler zwar gut schriftlich rechnen kann. Viele Kinder haben aber keine Vorstellung von den vorliegenden Größenordnungen und realisieren deshalb gar nicht, wenn ihre Lösung weit am richtigen Ergebnis vorbeigeht. So merkten bei einer Untersuchung der Universität Dortmund von 300 Schülern zwei Drittel nicht, dass die Aufgabe 701-698 auch leicht im Kopf zu lösen ist. Beim schriftlichen Rechnen produzierten sie zur Hälfte falsche Ergebnisse zwischen 0 und 1903, ohne zu merken, dass sie sich dabei vielfach in unrealistischen Dimensionen bewegten.

    Das Projekt „MenZa – Mentale Repräsentation von Zahlen und arithmetische Kompetenz im frühen Grundschulalter“ wird vom Rahmenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Förderung der empirischen Bildungsforschung im Schwerpunktbereich „Empirische Fundierung der Fachdidaktiken“ gefördert.

    Ansprechpartner:
    Dr. Andreas Obersteiner
    Technische Universität München
    Heinz Nixdorf-Stiftungslehrstuhl für Didaktik der Mathematik
    Telefon: 089 289 25396
    E-Mail: andreas.obersteiner@tum.de

    Hintergrund:
    Die Technische Universität München hat 2009 die TUM School of Education als erste deutsche Fakultät für Lehrerbildung und Bildungsforschung gegründet. Sie organisiert fächerübergreifend das Studium aller Lehramtskandidaten der TUM, wodurch die fachwissenschaftlichen und die didaktisch-pädagogischen Teile des Studiums systematischer aufeinander abgestimmt werden. Die Studierenden werden bereits ab dem ersten Semester mit Praktika an die Unterrichtspraxis herangeführt. Die Forschungserkenntnisse der Bildungswissenschaftler fließen unmittelbar in das Lehreramtsstudium und über Lehrerfortbildungen in den Schulunterricht ein. Durch ein Kooperationsnetz mit Schulen weckt die TUM School of Education bei Jugendlichen das Interesse für mathematisch-naturwissenschaftliche Studienfächer.


    Weitere Informationen:

    http://www.ma.edu.tum.de/forschung/menza/ Projekt „MenZa“
    http://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/zeigen.html?seite=8289 Rahmenprogramm des BMBF


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler
    Mathematik, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse, Schule und Wissenschaft
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).