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29.04.2002 14:34

Diktatur und Kirche

Brigitte Nussbaum Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Westfaelische Wilhelms-Universität Münster

    Ostkirchen-Institut der Universität Münster arbeitete Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche auf

    Russische Orthodoxe Kirche und Kommunismus galten lange Zeit als unversöhnliche Gegner. Dass die Beziehungen wesentlich vielschichtiger waren, ist Ergebnis eines von der VW-Stiftung im Rahmen des Großprogrammes "Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts" geförderten Forschungsprojektes des Ostkirchen-Institutes der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Unter Leitung von Prof. Dr. Günther Schulz wurde in den Staatsarchiven von Moskau und St. Petersburg neues Material von deutschen und russischen Wissenschaftlern erschlossen. In Russland sind bisher zwei Quellenbände erschienen, ein dritter folgt in Kürze.

    Hauptansatzpunkt waren die Protokolle des ersten Konzils der Orthodoxen Kirche in Russland seit zweihundert Jahren, das bereits unter der zaristischen Herrschaft geplant wurde und in den Jahren 1917 und 1918 stattfand. Die Teilnehmer wurden von den Gemeinden gewählt, erzählt Schulz. An diesen ersten freien demokratischen Wahlen in Russland nahmen erstmals auch Frauen teil. Die Mehrzahl der Delegierten waren keine kirchlichen Würdenträger, sondern Laien. Das Konzil sollte der Erneuerung der Russischen Orthodoxen Kirche dienen, die zwar offizielle Staatskirche, aber weit gehend machtlos war. Seit Peter dem Großen hatte es keinen Patriarchen mehr gegeben, durch die verschiedenen Säkularisierungen im 18. Jahrhundert wurde die Zahl der ausgeschriebenen Pfarramtsstellen stark reduziert, Predigten wurden zensiert und die große Menge der Landpriester waren "Bauern im Talar", die sich selbst versorgen mussten, beschreibt Timm Richter, Mitarbeiter im Forschungsprojekt, die damalige Situation.

    Nach der Revolution von 1905, während der Nikolaus II. tausende von Arbeitern niederschießen ließ, richtete der Zar zwar ein Staatsparlament, die Duma, ein, doch blieb dieses weit gehend ohne Einfluss. Die gesellschaftlichen Unruhen ergriffen auch die Russische Orthodoxe Kirche. Sie war "kein monolithischer Block", so Schulz, sondern reichte von den "Schwarzen Hundertschaften", einer äußerst konservativen Strömung, bis hin zu liberal gesinnten Priestern. Das Konzil, das 110 Millionen gläubige Russen repräsentierte, versprach Aufbruch und Reform. Noch heute finden
    sich in den Sitzungsakten Protokolle des Ausschusses "Bolschewismus in der Kirche", ein Beleg dafür, dass die Delegierten sich der Auseinandersetzung mit dem neuen Regime auch innerhalb der Kirche stellen mussten. Nach der Revolution von 1917 bildete das Konzil das einzige Gremium, das in Russland demokratisch gewählt worden war. Anfang 1918 kam es zu zwei Treffen zwischen Delegierten und Volkskommissaren, die um Verständigung zwischen den Gruppen warben.

    Das neue Selbstbewusstsein der Russischen Orthodoxen Kirche dokumentierte sich unter anderem in der Neuwahl eines Patriarchen. Doch bereits 1918 wurde ihr durch die Machthabenden aller Besitz und der Status einer juristischen Person genommen. Spätestens 1923 war dann mit einer Loyalitätserklärung des Patriarchen die konsequente Trennung vollzogen.

    Die Sitzungsprotokolle wurden nur zum Teil gedruckt und verschwanden in der Sowjetunion in den Archiven. "Das Konzil passte nicht in das progressive Geschichtsbild der Bolschewisten", begründet Schulz. Inzwischen wurden die Sitzungsprotokolle vollständig veröffentlicht, was die Betrachtung der Zwischentöne möglich macht. Und die, so Schulz, sind wichtig, um zu verstehen, wie und warum sich die Kirche einerseits reformiert und sich andererseits mit den Bolschewiki arrangiert hat. "Die Russische Orthodoxe Kirche war die erste Großkirche Europas, die sich mit einem totalitären System auseinandersetzen musste. Dabei sind natürlich auch Fehler gemacht worden", meint er. So sei der Patriarch zu frühzeitig festgelegt worden, so dass er sich zu wenig den gesellschaftlichen Themen öffnen konnte. Doch die kirchlichen Hierarchien seien zwar zerschlagen worden, die Ortsgemeinden dagegen konnten, stark reduziert, auch unter den Bolschewiki bestehen.

    Die innovative Idee eines Konzils, das auf Laien setzte, wurde nach dem Ende der Sowjetunion nicht wiederbelebt. "Das Kirchenvolk ist heute im Gegensatz zu den Bischöfen so konservativ, dass das schwierig wäre", vermutet Schulz. Doch ganz vergessen sollen das Konzil und sein reformerisches Potenzial nicht sein: Zusätzlich zu den Protokollen wird Schulz einen deutschen Band herausgeben, der über die Dokumentation hinaus auch Analysen enthält.


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    Tichon, erster Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche seit zweihundert Jahren
    Tichon, erster Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche seit zweihundert Jahren

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Tichon, erster Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche seit zweihundert Jahren


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