Heidelberg – Bei jedem fünften Patienten in der Hausarztpraxis findet der Arzt keine organische Erklärung für dessen Beschwerden. Diese sogenannten funktionellen oder somatoformen Störungen äußern sich zwar durch körperliche Symptome wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Herz- und Darmbeschwerden. Dahinter steckt aber ein komplexes Wechselspiel aus Faktoren wie genetische Veranlagung, soziale Probleme und psychische Belastungen. Bis diese Patienten eine geeignete Behandlung erhalten, dauert es zirka drei bis fünf Jahre.
Psychosomatische Experten der Universität Heidelberg haben nun ein neues Therapiemodell zusammen mit dem Hausarzt getestet, das die Lebensqualität verbessert und Arztbesuche reduziert. Auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vom 6. bis 9. März 2013 in Heidelberg stellen sie ihre Ergebnisse vor.
Patienten mit somatoformen Störungen leiden an vielfältigen körperlichen Symptomen. Am häufigsten sind Rücken- oder Kopfschmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit sowie Übelkeit, Reizdarm oder Atemnot. Die Ärzte finden hierfür jedoch keine hinreichende organische Erklärung. „Ausschlaggebend sind vielmehr seelische oder soziale Faktoren“, so Professor Dr. med. Wolfgang Herzog, Tagungspräsident des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Viele Patienten mit somatoformen Störungen legen eine jahrelange Odyssee zu verschiedenen Ärzten zurück. Teils, weil die Patienten aus Angst, an einer Krankheit zu leiden, auf weitere organische Abklärung drängen, teils, weil die Ärzte psychische Konflikte oder soziale Komponenten außer Acht lassen. „Unser Gesundheitssystem finanziert jegliche körperliche Untersuchungen, aber für ein Gespräch fehlt es Ärzten meist an Zeit und finanziellem Anreiz“, kritisiert Herzog.
Weil gerade bei schwereren Verläufen eine Behandlung durch Hausarzt und Psychosomatiker zu empfehlen ist, hat ein Heidelberger Team ein kooperatives Therapiemodell namens „speziALL“ entwickelt. Das steht für spezifische allgemeinmedizinisch-psychosomatische Kurzgruppenintervention. „Das Besondere an speziALL ist, dass Hausarzt und Psychosomatiker gemeinsam eine Gruppentherapie anbieten, und zwar in der Praxis des Hausarztes“, sagt Dr. med. Rainer Schäfert, der verantwortliche Studienarzt von der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Denn viele Patienten wollen von ihrem Hausarzt behandelt werden und lehnen eine Psychotherapie zunächst ab. „Bei speziALL ist die Hemmschwelle für die Patienten erheblich niedriger“, ergänzt Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Claudia Kaufmann, die verantwortliche Studienpsychologin. In zehn wöchentlichen Gruppensitzungen erhalten die Patienten Informationen zu den biologischen, sozialen und psychischen Faktoren, die die Beschwerden auslösen. Sie tauschen sich über ihre Beschwerden, deren Ursachen und mögliche Bewältigungsstrategien aus und lernen, sich zu entspannen.
Das Heidelberger Expertenteam hat die speziALL-Gruppentherapie in 18 Arztpraxen im Rhein-Neckar-Raum mit 170 Patienten durchgeführt. Parallel verfolgten sie die Entwicklung von 134 Patienten, die einzeln von 17 weiteren Hausärzten behandelt wurden. Diese sind wie alle Hausärzte in der Studie im Umgang mit somatoformen Störungen geschult worden. Es zeigte sich, dass sich die psychische Lebensqualität der Patienten in der speziALL-Gruppe im Vergleich zu den anderen Patienten in größerem Ausmaß besserte: Sie fühlten sich weniger eingeschränkt in ihrer Vitalität, bei sozialen Kontakten oder in ihrer Arbeitseffizienz. Zudem gingen die körperlichen Beschwerden zurück: Die Patienten hatten geringere Schmerzen und fühlten sich weniger erschöpft. „Nach der Gruppentherapie ging bei den speziALL-Patienten zudem die Angst zurück, an einer Krankheit zu leiden“, sagt Schäfert. Die Zahl der Hausarztbesuche habe bei diesen Patienten nach der Therapie signifikant abgenommen. „Gesundheitsökonomisch hat speziALL ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis“, sagt Schäfert.
Die Ergebnisse werden die Mediziner auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vorstellen. Auf der Pressekonferenz zum Kongress informieren die Experten auch über neue Ansätze in der Medizinerausbildung, die die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern.
Literatur:
Studie speziALL
• Schaefert R et al.: Specific collaborative group intervention for patients with medically unexplained symptoms in general practice: a cluster randomized controlled trial. Psychother Psychosom. 2013;82:106-19. doi: 10.1159/000343652, Abstract
Neue S3-Leitlinie:
• Schaefert R et al.. Klinische Leitlinie: Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden. Dtsch Arztebl Int. 2012;109:803-13. Artikel
Informationen für Betroffene und Angehörige:
• Matzat J et al.. „Mein Arzt findet nichts“ – so genannte nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden. Eine Leitlinie für Betroffene und ihre Angehörigen – Kurzfassung.
Terminhinweise:
Pressekonferenz
7. März 2013, 12.30 bis 13.30 Uhr,
Robert Schumann Zimmer, Kongresshaus Stadthalle Heidelberg
Vorläufige Themen und Referenten:
**Psychische Belastungen durch Krebs, Diabetes oder Herzschwäche erhöhen die Sterblichkeit. Wie können wir chronisch Kranke besser behandeln?
Professor Dr. med. Wolfgang Herzog, Tagungspräsident, Heidelberg
**Blutzucker senken mit Psychotherapie?
Wie eine Kurzzeittherapie Diabetespatienten und den behandelnden Arzt unterstützt
Univ.-Professor Dr. med. Johannes Kruse, Gießen und Marburg
**Ich glaube daran, also wirkt es? Neues aus der Placebo-Forschung
Professor Dr. med. Stephan Zipfel, Tübingen
**Komplexe Medizin trifft anspruchsvolle Patienten:
Wie angehende Ärzte und ihre Patienten einander besser verstehen
Privatdozentin Dr. med. Jana Jünger, Heidelberg
**Aktuelle Studienergebnisse zur sozialen Phobie:
Welche Therapien nehmen wirksam die Angst vor Menschen?
Univ.-Professor Dr. rer. nat. Falk Leichsenring
Professor für Psychotherapieforschung in der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Gießen
Kongresssitzungen zum Thema:
Postersessions: Somatoforme Störungen 1:
Der moderierende Effekt von Krankheitsängsten auf den Therapieverlauf bei Patienten mit funktionellen/ somatoformen Syndromen in der Hausarztpraxis Sekundäranalyse der speziALL-Studie (ISRCTN55280791)
7. März 2013, 12.15 bis 13.15 Uhr, Großer Saal
State-of-the-Art Symposium: Update „Somatoforme Störungen”:
“Somatic Symptom Disorder“, neue Leitlinien und Kostenaspekte
7. März 2013, 16.45 bis 18.15 Uhr, Kammermusiksaal
Plenarvortrag: Short-term Psychodynamic psychotherapy for Somatic Disorders: State of evidence and videotape illustration
A. Abbass, Halifax, Kanada
8. März 2013 9.00 bis 9.45 Uhr, Großer Saal
Kontakt für Journalisten:
Pressestelle Deutscher Kongress für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Christine Schoner/Kathrin Giesselmann
Postfach 30 11 20
70451 Stuttgart
Telefon: 0711 8931-573
Telefax: 0711 8931-167
schoner@medizinkommunikation.org
http://www.deutscher-psychosomatik-kongress.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Deutsch
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