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09.10.2002 13:46

Wer sitzt in der Armutsfalle?

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Drei Soziologen der Universität Leipzig wenden sich in einer Publikation dem Thema der Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt zu und kommen in ihren empirischen Befunden zu der überraschenden Erkenntnis: Die Hauptaussage des Armutsfallen-Theorems, Erwerbsfähige würden in Dauerbezug von Sozialhilfe verweilen, lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Damit sind aber auch die politischen Konsequenzen, die gemeinhin an die Armutsfalle geknüpft werden, fragwürdig. Mit anderen Worten: Die Frage, ob eine Lohnersatzleistung zu dauerhafter Untätigkeit verführt, kann nicht länger mit einem Ja beantwortet werden.

    "Sozialhilfe - da hat man zwar nichts, aber das hat man sicher. Viel mehr Geld lässt sich mit Arbeit auch nicht machen. Und Arbeit macht Ärger. Also bleibt man in der Sozialhilfe. Das ist die Armutsfalle." Menschen, die - wie es die Theorie der Armutsfalle definiert - nicht fähig oder nicht gewillt sind, die kurzfristigen Vorteile aus Sozialhilfe zugunsten des langfristigen Vorteile aus Erwerbsarbeit aufzugeben, dürfen und müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. Durchaus mit Druck. Das ist das legitimatorische Potenzial, das in der Armutsfalle steckt.
    Soweit die Theorie. Die ist so alt wie der Sozialstaat - und niemand hat es bislang für nötig befunden, den Beweis für sie zu erbringen. Also die Frage zu stellen: Lässt sich im Leben von Sozialhilfeempfängern belegen - sowohl empirisch als auch qualitativ -, dass sich der Bezug von Sozialhilfe ins Unendliche dehnt? Dass, wer einmal in Sozialhilfe "abrutscht", allein aus eigener Kraft und ohne helfenden Druck nicht wieder aus der Armutsfalle herauskommt. Die Antwort haben jetzt drei Soziologen der Universität Leipzig vorgelegt: Ronald Gebauer, Hanna Petschauer und Georg Vobruba vom Institut für Soziologie. Ihr ebenso schlichtes wie sensationelles Fazit: "Die Verbleibedauern im Sozialhilfebezug sind überwiegend relativ kurz." Als Folge hegen sie "begründete Zweifel an den arbeitsstörenden Wirkungen von Sozialhilfe und an all den politischen Konsequenzen, die üblicherweise daraus gezogen werden".
    Das bedeutet in der Konsequenz: Ja, die Armutsfalle existiert. Jedoch nicht im Leben von Menschen, die Sozialhilfe beziehen. Sondern in den Köpfen und Büchern von Menschen, die über jene urteilen, die Sozialhilfe beziehen. Bis heute gehört das Theorem der Armutsfalle zum Arsenal zweifelsfreier Überzeugungen - in den Wirtschaftswissenschaften gilt es als Standard, in den Sozialwissenschaften als Gewissheit, dem Wirtschaftsfeuilleton dient es als Argument und ebenso der Sozialpolitik. Die hehre Absicht: Empfänger von Sozialhilfe gehören raus aus der Armutsfalle, rein in die Erwerbsarbeit. Und wenn sich Sozialhilfe bei diesem Schritt als Hemmschuh erweist, dann muss sie - zumindest - nach Dauer und Höhe begrenzt werden. So weit so üblich, siehe jüngst die Vorschläge der Hartz-Kommission. "Niemand ist bereit für einen Lohn unter der Sozialhilfe zu arbeiten", wusste Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des IFO München schon Anfang 2001 über die "Befreiung aus der Armutsfalle" ("Wirtschaftswoche", Nr. 4/2001).
    Bei all der Selbstverständlichkeit, mit der in Deutschland - auch angesichts der Kluft, die zwischen vier Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen und bis zu anderthalb Millionen seitens der Wirtschaft offenen Arbeitsstellen klafft - zu Werke gegangen wird, haben die Experten in Sachen "Armutsfalle" bislang eine Frage schlichtweg vergessen: Bleibt jemand, der mit Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe "so bequem dran ist", tatsächlich in der Armutsfalle sitzen? Ist jemand, der im Teufelskreis Armutsfalle steckt, wirklich nicht willens zur Erwerbsarbeit? Kurzum: Verführt Lohnersatzleistung zur Untätigkeit?
    Das Theorem geht "vollkommen automatisch" davon aus, dass der Bezug von Lohnersatzleistungen erwerbsunfähig und -unwillig, also träge und faul macht. "Die Anreizstruktur wird mit dem tatsächlichen Verhalten gleichgesetzt", erklärt Georg Vobruba das Desinteressse, die Armutsfalle an der Realität zu messen. Für den Soziologie-Professor der Universität Leipzig ein Unding. Schließlich präge das Maximierungskalkül deren Fokus. "Problematisch ist halt, dass andere Faktoren jenseits von Einkommensmaximierung aus dem Blick geraten." Dass die Sozialwissenschaften "wenig eindeutig" mit der Armutsfalle umgehen, das Theorem weder prägnant zuspitzen noch seine Implikationen effektiv zurückweisen, mag er hingegen nicht hinnehmen. Schließlich sitzt das Theorem "tief im Denken", trotz seiner "unzureichenden empirischen Basis". Wenn es fortdauernd ungeprüft in die sozialpolitische Debatte eingeht, "dann fährt man Aktionen wie das 'Bündnis für Arbeit' an die Wand".
    "Der Rest des Projektes ist schnell erzählt", meint Prof. Georg Vobruba. Zum einen beleuchteten Gebauer, Petschauer und Vobruba das Theorem aus empirischem Blickwinkel; zum anderen fragten sie nach den Ursachen für den gravierenden Unterschied, der sich zwischen dem empirisch belegbaren Arbeitsmarktverhalten und den Annahmen des Armutsfallen-Theorems ergab.
    Das Datenmaterial filterten die Leipziger Wissenschaftler aus dem Sozio-Ökonomischen Paneel (SOEP), das seit 1984 repräsentativ jährlich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) erhoben wird, und legten für ihre Analysen eine Stichprobe zugrunde: 440 erwerbsfähige Männer und Frauen in Köln und Leipzig, die zwischen 1991 und 1996 Sozialhilfe erhielten. Die Auswertung der Daten ergab: "Von 100 Einsteigern in die Sozialhilfe sind nach einem Jahr 59, nach drei Jahren 78 und nach fünf Jahren 83 wieder ausgeschieden." Erst nach fünf Jahren "tut sich fast nichts mehr"; heißt, erst nach fünf Jahren sind fast keine Abgänge aus der Sozialhilfe in den Arbeitsmarkt mehr zu verzeichnen. Damit ist der Nachweis erbracht, den Sozialhilfebezieher, den das Theorem der Armutsfalle modelltypisch braucht, gibt es nicht. "Die (implizite) Hauptaussage des Armutsfallen-Theorems, Erwerbsfähige würden in Dauerbezug von Sozialhilfe verweilen, findet in der präzisen empirischen Beschreibung der tatsächlichen Sozialhilfeverläufe kaum eine Entsprechung. Daraus folgt zwingend: Die politischen Konsequenzen, die an die Armutsfalle geknüpft werden, operieren auf der Grundlage einer unrealistischen, fehlerhaften Sicht der Dinge."
    Zum anderen richteten die Leipziger Soziologen ihren Blick auf Motive und Handeln von Menschen, die an der Schnittstelle von Arbeitsmarkt und Sozialhilfe standen. In 26 Interviews wurden beispielsweise eine Köchin, eine Pädagogin, ein Kraftfahrer, ein Historiker und eine Schlosserin, alleinerziehende und verheiratete Mütter sowie alleinstehende Männer, Menschen in den Altersgruppen 16 bis 25 und 46 bis 55 Jahre sowie aus beiden Städten befragt. Damit verbanden die Soziologen nicht den Anspruch, repräsentative Aussagen zu erheben, aber doch ihren empirischen Befund - den raschen Ausstieg der überwiegenden Mehrheit aus der Sozialhilfe - zu erklären. So zeigen die Interviews vielfältige Gründe, Sozialhilfe aus eigenem Antrieb zu beenden: "dass ich erst mal aus der Wohnung rauskomme, dass ich unter Menschen komme"; "dass ich irgendwann eine Stelle kriege, wo man aus dieser ungünstigen Situation [einer schlecht entlohnten Tätigkeit] wieder raus kommt"; "damit die [Kinder] dann nicht gehänselt werden in der Schule". In der Summe der unterschiedlichen Kalküle zeigt sich auch hier zeigt sich: Das Handeln von Sozialhilfebeziehern ist mit dem Verweis auf die kurzfristige Einkommensmaximierung kaum erklärt.
    "Alles in allem", resümieren Ronald Gebauer, Hanna Petschauer und Georg Vobruba, "die Menschen sehen und verhalten sich überwiegend nicht als Opfer der Verhältnisse, sondern sie gestalten ihr Leben." Oder, um es in den Worten einer Interviewpartnerin, einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern aus Köln, zu sagen: "Nein, ich vermisse diese Zeit [in der Sozialhilfe] nicht. Überhaupt nicht. Es macht mir Spaß. Natürlich steht man manchmal morgens auf und denkt: huch, heute nicht. Aber ich steh' nicht auf und denke: oh, hätte ich doch Sozialhilfe. Nein, das ist was anderes, wenn man sich was selber kaufen kann. Oder auch nicht kaufen kann. Aber es redet einem keiner rein."
    Daniela Weber

    Ronald Gebauer, Hanna Petschauer, Georg Vobruba: Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. edition sigma. Berlin 2002 (Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung; 40). 14,90 Euro.

    Weitere Informationen: Prof. Dr. Georg Vobruba
    Telefon: 0341 97 35641
    E-Mail: vobruba@sozio.uni-leipzig.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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