In den letzten Jahren haben die Versteigerung des vierten Ham-burger Stadtsiegels und anderer gestohlener Archivalien für Aufsehen und eine Reihe von Prozessen gesorgt, die die entwen-deten Sachen dem rechtmäßigen Eigentümer wieder zuführen soll-ten. Nach geltendem deutschen Recht kann in öffentlicher Ver-steigerung ohne weiteres das Eigentum an gestohlenen Archivali-en gutgläubig erworben werden. Es ist außerdem keine Vorsorge getroffen, daß wertvolles Archivgut den öffentlichen Archiven zugeführt werden kann, statt im Müll zu landen. Zu dieser Fest-stellung gelangt Professor Dr. Dieter Strauch, Seminar für Deutsches Recht der Universität zu Köln, in seiner Untersuchung "Das Archivalieneigentum. Untersuchungen zum Öffentlichen und privaten Sachenrecht deutscher Archive".
In den geschilderten Fällen haben die Gerichte wegen des schwierigen Eigentumsnachweises die Archive oft wenig schützen können, obgleich die Archivalien als unersetzliches Kulturgut und Quelle der geschichtlichen Überlieferung jeden Schutz ver-dient hätten. Bei privaten Sammlern zeichnet sich heute ein vermehrtes Interesse und eine besondere Vorliebe an solchen "Altertümern" ab, die auf Auktionen und Versteigerungen erwor-ben werden, und nicht selten aus den Beständen der Archive stammen. Zum Kreis der Straftäter zählt neben Archivbenutzern und Dieben, die in das Archiv zum Zwecke von Raub und Diebstahl eindringen, zuweilen auch das Archivpersonal. Außerdem nimmt der internationale Handel mit solchem Kulturgut ungeahnte Aus-maße an und droht zu einem Aderlaß für die deutsche Kultur zu werden. Deshalb muß darüber nachgedacht werden, wie die Archive besser vor Diebstahl geschützt werden können und was getan wer-den kann, um gestohlene Archivalien ihren rechtmäßigen Eigentü-mern wieder zuzuführen.
Da Archivgut typischerweise nur einmal vorhanden ist, müssen die Interessen von Wissenschaft und Forschung an seiner Benut-zung sichergestellt, aber auch abgewogen werden gegen den nöti-gen Schutz der Archive vor Eigentumsverlust durch Straftaten. Gefordert sind wirksame Maßnahmen zum Schutz des Archivalienei-gentums. Dazu gehören kein Zugang zum Magazin für Benutzer, Be-nutzung von Kopien oder Mikrofilmen statt der Originale, be-schränkte und streng kontrollierte Ausgabe unbearbeiteter Be-stände, konsequente Überwachung der Benutzer, u.a. durch Fern-sehkameras, Verwendung doppelter Leihscheine, scharfe Kontrolle der Archivalien bei der Rückgabe. Gleichzeitig hemmt ein Ar-chivstempel auf jedem Blatt der Akte oder Urkunde einen Weiter-verkauf und bringt zugleich den Vorteil, daß beim Wiederauffin-den der Archivalie nach Diebstahl der Eigentumsnachweis er-leichtert wird.
Ist erst einmal durch Diebstahl oder Unterschlagung Archivgut entwendet und wird die Beute öffentlich versteigert, so kann ein gutgläubiger Bieter sie zu Eigentum erwerben, so daß sie damit für das Archiv endgültig verloren ist. Ein Rückerwerb wird meist an fehlenden Mitteln scheitern. Wie kann der gut-gläubige Erwerb verhindert werden? Hierzu bieten sich zwei Wege an: Einer besteht darin, regelmäßig die Versteigerungskataloge durchzusehen und so entwendete Archivalien aufzudecken. Das gibt dem Archiv die Möglichkeit, das Auktionshaus bzw. dessen Einlieferer strafrechtlich verfolgen zu lassen. Daneben kann es durch einstweilige Verfügung ein Veräußerungsverbot erwirken und so die Versteigerung verhindern.
Ist die Versteigerung aber durchgeführt, so kommt es auf die Auslegung des Gesetzes an, ob der Ersteher das Eigentum er-wirbt. Die bisher praktizierte Rechtsprechung berücksichtigt zu wenig, daß auf öffentlichem Archivgut eine öffentlich-rechtliche Dienstbarkeit ruht, die den gutgläubig - lastenfrei-en Erwerb des Eigentums durch einen gutgläubigen Ersteher ver-hindert. Im Streit des bisherigen Eigentümers der Archivalie (der öffentlichen Hand) und des Erstehers ist keineswegs dessen geplanter Eigentumserwerb vorzugsweise schutzwürdig. Vielmehr legt es die Einmaligkeit der Archivalie und das verfassungs-rechtliche Prinzip des Kulturgutschutzes nahe, das öffentliche Eigentum vor Verlust zu schützen. Die Rechtsprechung zu dieser Frage ist fragwürdig und widersprüchlich, legt sie doch z. B. dem Erwerber eines gebrauchten Autos eine Erkundigungspflicht auf, von der sie beim Erwerb von Archivalien nichts wissen will, obwohl der Kulturgutschutz sie hier erst recht fordert.
Öffentliches Archivgut gelangt zumeist durch Übernahme von Un-terlagen ins Archiv, welche die Verwaltung nicht mehr benötigt. In diesen Fällen ändert sich die Eigentumslage nicht, sondern aus Sachen im Verwaltungsgebrauch werden Archivalien. Da nicht alles bewahrt werden kann, was die Verwaltung heute an Schrift-gut hervorbringt, nehmen die Archive selbst eine kontrollierte Aussonderung und Vernichtung von Dokumenten (sog. Kassation) vor. Diese Bestandsreduzierung durch das Archivpersonal ist un-umgänglich geworden, um Nichtbewahrungswürdiges auszuscheiden und die Archive nicht zu überlasten. Dabei muß das Material sorgfältig gesichtet und bewertet werden; zeitbedingte Wertkri-terien dürfen nicht den Ausschlag geben, um zukünftiger For-schung ein möglichst vollständiges Bild der Epoche zu bieten. Die Rechtsnatur der Kassation und ihre Folgen hat Prof. Strauch hier erstmals dargestellt.
Besteht ein öffentliches Interesse an der Aufnahme privaten Ar-chivgutes in staatliche oder kommunale Archive, so können sie es letztwillig (auf Grund eines Testaments) oder durch schuld-rechtliche Verträge (wie Kauf, Tausch, Ersteigerung oder Schen-kung) erwerben. Nicht selten wird es ihnen (als sog. Depositum) auch nur zur befristeten Aufbewahrung und Erschließung überlas-sen.
Wie ist aber die Rechtslage, wenn Privatpersonen zwar Eigentü-mer von wertvollem Archivgut sind oder es geerbt haben, es aber weder selbst bewahren noch dem öffentlichen Archiv anbieten, sondern sich davon trennen wollen? So fanden sich eines Tages nachgelassene Dokumente und Papiere eines Politikers gebündelt am Straßenrand, bereitgestellt für die Altpapierentsorgung. Zwar gibt die Eigentumsfreiheit jedem das Recht, sein Eigentum zu vernichten, doch wird man den öffentlichen Archiven ein An-eignungsrecht zubilligen, wenn die Archivalien nicht vernich-tet, sondern "weggeworfen" werden. Der Erhaltung des Archivguts und dem öffentlichen Interesse an einer Person der Zeitge-schichte gebührt hier der Vorrang vor dem Streben nach Anonymi-tät oder den Entsorgungspflichten der Müllabfuhr. Es besteht deshalb ein Bedürfnis, die Erhaltung einmaliger privater Doku-mente rechtlich zu verstärken. Ihre Enteignung ist zwar ausge-schlossen, aber ein Archivalienschutzgesetz, das eine Anbie-tungspflicht oder auch nur eine Meldepflicht für Dokumente vor-schreibt, deren Vernichtung verbietet und andere Formen des Mißbrauchs unterbindet, existiert bislang nicht. Das "Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung" schützt Ar-chivalien nur unzulänglich. Art. 36 EWG-Vertrag und die EWG-Richtlinie Nr. 93/7 von 1993 haben zwar den freien Warenverkehr für Kulturgut eingeschränkt, doch ist ihre Reichweite unklar; auch sind sie bisher nicht in nationales Recht umgesetzt.
Da es sich mittlerweile als unabdingbar erwiesen hat, den Kul-turgutschutz über bloße Programmsätze hinaus zu vertiefen, ist es dringend erforderlich, den gutgläubigen Erwerb von Archiva-lien nach den §§ 935, 936 BGB auszuschließen, ein Archivalien-schutzgesetz mit dem geschilderten Inhalt zu erlassen und den internationalen Archivalienhandel unter Kontrolle zu bringen, indem die EG-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt wird. Au-ßerdem sollte die Bundesrepublik die UNIDROIT-Konvention vom 24. Juni 1995 "Convention on Stolen or Illegally Exported Cul-tural Objects" endlich ratifizieren, statt sich abseits zu hal-ten. Wenn die bisherige Rechtslage nicht bald verbessert wird, werden weiterhin unersetzliche Archivalien den rechtmäßigen Ei-gentümern entzogen werden und/oder Deutschland auf Nimmerwie-dersehen verlassen. Der deutschen Kultur und ihrer wissen-schaftlichen Erforschung droht ein unersetzlicher Verlust.
Verantwortlich: Dr. Wolfgang Mathias
Für Rückfragen steht Ihnen Professor Dr. Dieter Strauch am 10. Juli 1998 in der Zeit von 9.00 Uhr bis 13.00 Uhr unter der Te-lefonnummer 02227-6076 und der Email-Adresse AOD02@UNI-KOELN.DE zur Verfügung.
Unsere Presseinformationen finden Sie auch im World Wide Web (http://www.uni-koeln.de/organe/presse/pi/index.htm).
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