Seit Wochen erhitzt die Diskussion über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA die Gemüter. Kritiker fürchten um die hohen EU-Standards. Die Zivilgesellschaft hat Angst vorm „Chlorhähnchen“. Jüngste Bedenken gelten dem „Rat zur regulatorischen Kooperation“, den EU und USA gemeinsam einrichten wollen: Er soll Gesetzesvorhaben eng mit Lobbygruppen abstimmen. Prof. Dr. Andreas Falke, Lehrstuhl für Auslandswissenschaft (Englischsprachige Gesellschaften) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, erklärt Chancen und Risiken der Transatlantischen Handels-und Investitionspartnerschaft (TTIP).
Eins gleich vorweg: Was augenblicklich an Aussagen über das Abkommen kursiert – ob von Gegnern oder Befürwortern, basiert im Wesentlichen auf Spekulation, denn Ergebnisse oder belastbare Verhandlungstexte liegen kaum vor. Und so kann jede Einschätzung zunächst auch nur vorläufig sein.
Mehr noch: Die Transatlantische Handels-und Investitionspartnerschaft, kurz TTIP oder Freihandelsabkommen genannt, ist keine Neuigkeit. Schon seit Mitte der 90er Jahre ist sie, vor allem von europäischen Politikern, diskutiert worden. Den Anstoß, das Projekt wieder aufzunehmen, gaben jetzt jedoch die Stagnation der WTO, die Wachstumsschwächen der transatlantischen Volkswirtschaften nach der Finanzkrise und die geostrategischen Herausforderungen durch die neuen Schwellenländer, insbesondere China. Die EU und die USA streben mit der TTIP hohe Standards und weitreichende Regeln an, die auch globale Wirkungen auf die zukünftigen Strukturen der Weltwirtschaft entfalten können.
Und – das darf man in der Diskussion nicht vergessen – viele Dossiers sind unstrittig: der Zollabbau etwa oder die öffentliche Beschaffung, technische Produktstandards und eine generelle Regulierungskooperation. Dennoch hat sich in der Zivilgesellschaft breiter Widerstand gegen das Abkommen gebildet. Die pauschal geäußerte Befürchtung ist, das Abkommen würde hohe Verbraucher-, Umwelt- oder Sozialstandards untergraben.
Die Belege dafür sind jedoch nicht immer überzeugend. Die TTIP ist kein Deregulierungsprojekt, sondern möchte gerade das Gegenteil: hohe Standards setzen, die für fortgeschrittene Industrieländer typisch sind. Das Recht von Parlamenten und Regulierungsbehörden, regulatorische Standards und Gesetze zu verabschieden, will keine Seite zur Disposition stellen. Europäische Kritiker übersehen zudem häufig, dass in einigen Bereichen – etwa was medizinische Geräte angeht – die amerikanischen Standards höher sind und somit auch die Bereitschaft, diese zu verteidigen.
Als problematisch empfinden europäische Kritiker vor allem die Lebensmittelregulierung: Hier sind die mit Chlorlösungen behandelten Hähnchen zum potenten Symbol geworden. Unabhängig von der naturwissenschaftlichen Beurteilung dieses Verfahren, hat die EU deutlich gemacht, dass das EU-Verbot nicht zur Disposition steht. Der amerikanische Verhandlungsführer hat zudem auf der letzten Pressekonferenz in Washington hervorgehoben, dass die USA niemanden in Europa dazu zwingen wollen, bestimmte amerikanische Produkte zu konsumieren. Mit Änderungen am Status Quo in der Lebensmittelregulierung ist also nicht zu rechnen. Das gilt auch für gentechnisch veränderte Produkte oder hormon-behandeltes Rindfleisch. Und das, obwohl die EU-Position in manchen Bereichen der Lebensmittelregulierung – etwa beim Labelling, also der Kennzeichnung von Lebensmitteln – nicht immer sehr konsistent ist oder auf belastbaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut. Zu beachten ist auch, dass sich gerade bei der Regulierung des Handels mit landwirtschaftlichen Produkten protektionistische Impulse mit mehr oder weniger legitimen Imperativen der Lebensmittelsicherheit vermengen.
Das gilt auch für den Bereich der audio-visuellen und kulturellen Dienstleistungen, den die EU auf Wunsch Frankreichs mit Unterstützung der Bundesregierung zunächst völlig von der Verhandlungsliste gestrichen hat. Er umfasst im audiovisuellen Bereich Rundfunk und Fernsehen, im kulturellen Bereiche Regeln wie die Buchpreisbindung oder Maßnahmen zur Förderung der europäischen Kultur im Film- und Rundfunkbereich, die in einigen EU-Mitgliedstaaten geschaffen wurden. Vieles, was hier in die Kritik geraten ist, hat aber eher Relevanz für die interne EU-Diskussion, in der Interessengruppen frühzeitig Pflöcke einschlagen wollen. Von der Regulierungskonvergenz sind vorrangig bessere Abstimmungsverfahren im Vorfeld neuer Regulierung und vor allem vereinfachte Test- und Überprüfungsverfahren bei Produktnormen dort zu erwarten, wo ohnehin eine Äquivalenz des Regulierungsniveaus vorausgesetzt werden kann.
Ein weiterer von den Kritikern hervorgehobener Streitpunkt ist die Einführung des Investor-Staats-Schiedsverfahren zwischen der EU und den USA. Ursprünglich handelte es sich bei solchen Abkommen um eine Art bilateraler Investitionsschutzabkommen, die Investoren aus Industriestaaten besser vor Enteignungen in vermeintlich unbeständigen Entwicklungsländern schützen sollte. Ansprüche ausländischer Investoren wurden dazu vor einer Schiedsstelle verhandelt, denen keine staatlichen Richter, sondern in der Regel Anwälte internationaler Kanzleien vorsitzen, die im Geheimen tagen, wesentliche Dokumente höchstens nach dem Urteil veröffentlichen und keine Berufung oder Revision zulassen. Deutschland war ein Pionier bei der Einführung dieser Verfahren, und es hat sich insbesondere im Bezug auf Quellenländer als sinnvoll erwiesen. Ob ein solches Abkommen für entwickelte Länder in der gegenwärtigen Form sinnvoll ist, muss in Tat fraglich bleiben. Tragbar wäre dies aus meiner Sicht nur, wenn erhebliche Modifikationen vorgenommen würden, wie etwa die Schaffung von mehr Transparenz, Schutz gegen unseriöse Klagen, Ausnahmeregeln für die Regulierung im öffentlichen Interesse und Schaffung eines Berufungsverfahrens. Nur so ließe sich das öffentliche Vertrauen in diesen Mechanismus herstellen.
Denn übersieht die bisher überwiegend von Gruppen der Zivilgesellschaft bestimmte öffentliche Diskussion in meinen Augen die Chancen eines Abkommens gerade für exportorientierte deutsche Unternehmen. Vereinfachte bürokratische Zulassungs- und Testverfahren oder deren Harmonisierung nutzen vor allem den vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen – gerade auch in Deutschland –, die die regulatorischen Lasten nicht so leicht tragen können wie die großen multinationalen Konzerne. TTIP dürfte kaum zur umfassenden Regulierung führen, sondern einen Prozess in Gang setzen, der mittelfristig zur Konvergenz auf hohem Niveau führt.
Man kann sicherlich den Bedenken der Zivilgesellschaft bis in letzter Konsequenz Rechnung tragen, doch verursacht das auch Kosten an anderer Stelle. Schließen die europäischen Verhandlungsführer immer weitere Bereiche aus, engen sie den Verhandlungsspielraum immer mehr ein, was der Verhandlungspartner seinerseits mit Einschränkung beantworten wird. Schon jetzt ist absehbar, dass die Amerikaner ihre Angebote in der öffentlichen Beschaffung, bei Verkehrsdienstleistungen und bei Energieexporten nicht sehr großzügig gestalten; auch die amerikanischen Angebote beim Zollabbau fallen nicht sehr ambitioniert aus. Richtet Europa die Agenda zu sehr an der Belangen und Agenden der Zivilgesellschaft aus, zahlt sie mit Exportchancen der deutschen und europäischen Industrie. Was jetzt not tut, ist ein Abwägungsprozess in diesem Interessenkonflikt und eine echte öffentliche Diskussion – beides ist bislang noch nicht in Gang gekommen. Erst wenn dies geschehen ist, wird man zu einem fundierten Urteil über das Abkommen gelangen können.
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