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27.02.2003 08:57

Krisendienst auf dem Prüfstand - Neue Studie zur Qualität des Berliner Kriseninterventionsdienstes

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Alicia L. ist verzweifelt: Ihr 53-jähriger Mann hat vor acht Wochen seine Stelle als Architekt verloren und rechnet sich keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt mehr aus, der vierzehnjährige Sohn schreibt in der Schule lauter Fünfen. Aus Sorge um ihre "Männer" plagen Alicia seit Wochen schlimme Albträume, morgens wacht sie oft gerädert auf und kann sich im Büro nicht mehr konzentrieren. Als sie wegen zahlreicher Flüchtigkeitsfehler in einem wichtigen Brief eine Abmahnung erhält, bricht für sie die Welt zusammen. Im Geist sieht sie sich arbeitslos, die Familie als Sozialhilfeempfänger, den Sohn ohne Abitur. Seit gut einer Woche drängen sich Selbstmordgedanken auf, über die sie mit niemanden sprechen kann. Als sie an der U-Bahnstation eine Werbung des Berliner Krisendienstes sieht, beschließt sie in ihrer Not, sofort anzurufen. Seit 1999 gibt es an neun Standorten den vom Berliner Senat für Gesundheit und Soziales unterstützten Kriseninterventionsdienst, bei dem sich allein im Jahr 2002 43.270 Menschen gemeldet haben. Seit kurzem liegt eine wissenschaftliche Studie über den Krisendienst vor, der ihm ein exzellentes Ergebnis bescheinigt.

    "Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit besteht ein erhöhter Beratungsbedarf", sagt Prof. Dr. Jarg Bergold vom Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie der Freien Universität Berlin, der gemeinsam mit Prof. Dr. med. Ralf-Bruno Zimmermann (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) die nun über 300 Seiten lange Studie über "Krisen und Krisenberatung" erarbeitet hat. 1998 hatte die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales die wissenschaftliche Begleitforschung europaweit ausgeschrieben. Der Senat finanzierte das dreijährige Projekt mit 450.000 DM, um "die Struktur, die Arbeitsweise und das Leistungsprofil der ambulanten Krisenversorgung im Land Berlin" nach der dreijährigen Erprobungsklausel zu verbessern.

    "Bislang suchen vor allem Frauen im mittleren Lebensalter mit unterschiedlichsten Problemen den ambulanten Kriseninterventionsdienst auf", sagt Bergold und betont, dass die Nutzung von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern und älteren Menschen noch ausbaufähig ist. Wer in Kontakt mit dem Krisendienst tritt, befindet sich meist in einer schweren Lebenskrise, leidet unter Ängsten, Panik oder Depressionen. Klienten, die einen ärztlichen Einsatz benötigen, werden von den Ärzten in hohem Maße als psychisch krank eingestuft. Die häufigste Diagnose ist Schizophrenie, während bei akuter Suizidalität die Diagnose oftmals auf eine Borderline-Persönlichkeitsstruktur zurückgeht.

    Wie notwendig der Kriseninterventionsdienst in Berlin ist, zeigt die wachsende Nachfrage: Während 1999 32.561 Menschen Kontakt mit den Mitarbeitern des Krisendienstes aufnahmen, waren es ein Jahr später bereits 43.270 Menschen und damit eine Steigerung um 34 Prozent. Die Studie hat rund 80.000 einzelne Kontakte von Hilfesuchenden ausgewertet: Danach wurden 7.928 Klienten als eindeutig suizidal eingestuft, 2000 Klienten als chronisch psychisch erkrankt. Bei rund zehn Prozent der Klienten empfahl der Kriseninterventionsdienst die Einweisung in die Klinik.

    In immerhin 1783 vermerkten Fällen suchten die Mitarbeiter des Krisendienstes nach Alternativen zum Klinikaufenthalt. "Der Kriseninterventionsdienst ist ein ganz wichtiges Bindeglied zwischen der ambulanten und stationären Behandlung", sagt Bergold. "Durch professionelle Beratung im Vorfeld eines Zusammenbruchs lassen sich zudem Kosten sparen". Gleichzeitig hat sich der Kriseninterventionsdienst vor allem in der Betreuung krisenhafter Zuspitzungen bei geistig behinderten Menschen, ihren Angehörigen und professionellen Helfern herauskristallisiert.

    Der Krisendienst ist gut eingebunden in das gemeindepsychiatrische und psychosoziale Netz in Berlin, das heißt, er arbeitet eng mit ambulanten psychiatrischen Diensten, Psychotherapeuten und Beratungsstellen zusammen. Auch die Kooperation mit der Polizei und der Feuerwehr funktioniert sehr gut. Praktische Ärzte nutzen den Krisendienst hingegen noch zu wenig. Als ausgesprochen positiv hat sich das Modell der vernetzten Mitarbeiter erwiesen: So hat ein Teil der Mitarbeiter nur wenige Dienste in einer Einrichtung des Kriseninterventionsdienstes und arbeitet ansonsten in einer anderen psychosozialen Stätte in der Region.

    Von der Bevölkerung ist der Kriseninterventionsdienst inzwischen gut angenommen worden - so ein weiteres Ergebnis der Studie. Von 285 auf der Straße angesprochenen Leuten kannten den Dienst achtzig. "Das ist eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass der Dienst erst seit 1999 existiert und zeigt, welche wichtige Funktion er in Berlin einnimmt."

    Die Ergebnisse der Studie beruhen auf Untersuchungen im Zeitraum von August 1999 bis Juli 2002. Dabei wurden Informationen aus rund 80.000 Einzelkontakten mit Hilfesuchenden statistisch ausgewertet und die Meinung von Angehörigen, Ärzten, Mitarbeitern etc. eingearbeitet.

    Weitere Informationen erteilen Ihnen gern:
    - Prof. Dr. Jarg Bergold, Arbeitsbereich Klinische Psychologie der Freien Universität Berlin, Tel.: 030 / 838-54988, 465 60 63, E-Mail: bergold@zedat.fu-berlin.de
    - Prof. Dr. Ralf-Bruno Zimmermann, Katholische Fachhochschule für Sozialwesen Berlin, Tel.: 030 / 50 10 10 22


    Weitere Informationen:

    http://www.krisendienstforschung.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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