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07.03.2003 13:25

Der unerhörte Klang der Renaissance

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Der weltweit einmalige Musikinstrumenten-Fund im Freiberger Dom wird gegenwärtig im Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig mit modernen wissenschaftlich-technischen Methoden untersucht.

    Die Existenz des himmlischen Orchesters war bekannt. Bereits in den 1950er Jahren wurden die 30 Musikinstrumente aus der Begräbniskapelle des Freiberger Doms beschrieben - als gelungene Imitate, die ihre Vorbilder vier Jahrhunderte überdauert hatten. Nun jedoch bedarf es einer neuen Einschätzung. Aktuelle Analysen am Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig bestätigen: Bei den Instrumenten handelt es sich um 17 Originale und 13 Attrappen - allesamt derart gelungen ausgeführt und unversehrt erhalten, dass sie ihr Geheimnis offenbaren: den unerhörten Klang der Renaissance.

    Eine kleine Revolution, das ist der Traum von Veit Heller. Eine kleine Revolution in der Musikwelt. Die verloren geglaubte Instrumentenformen der Cister und des Zink zurück bringen könnte, die vergessene Töne und Kompositionen wieder beleben würde. Sie schienen vergangen im ausgehenden 16. Jahrhundert. Doch jetzt bietet sich eine einmalige Chance, den Klang der späten Renaissance ins Hier und Heute zu übertragen: 30 Instrumente, mit denen die Begräbniskapelle des Freiberger Doms zwischen 1585 und 1594 ausgestattet worden war, lagern derzeit im Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig. Einst gingen sie aus dem erzgebirgischen Instrumentenbau hervor, wurden exakt ausgearbeitet, von stetem Gebrauch geformt und letztlich im Orchester des Doms verewigt. Es war der Bildhauer Giovanni Maria Nosseni, der entschied, den Engelsputten über der Grabstätte der Wettiner keine Gipsmodelle, sondern irdische Instrumente in die Hand zu geben. Gemeinhin sind derartige "Spielereien" aus dem süddeutschen Raum, ausgeführt als Stuckaturen an Orgelprospekten, bekannt; ein Ensemble hingegen mit 17 Originalen und 13 Attrappen - wie im Freiberger Dom - lässt sich andernorts kaum finden. "Die 30 Instrumente außerhalb des Doms untersuchen zu können", sagt Veit Heller, "ist eine riesige Chance." Mit allen Finessen und Feinheiten, die Technik und Methodik heute bieten. "Es gibt kaum noch Instrumente, die den Zustand des 16. Jahrhunderts verdeutlichen", benennt Veit Heller die "große Besonderheit" des Engel-Orchesters.
    Dessen Ruhe wurde bislang lediglich in den 1950er Jahren von Freiberger sowie um 1970 von Leipziger Museologen unterbrochen, die die Streich-, Blas-, Schlag- und Zupfinstrumente erstmals aus der Nähe begutachteten. Bei ihren Untersuchungen mussten sich Herbert Heyde und Peter Liersch allerdings mit dem Augenschein in der Kapelle begnügen. Die Instrumente - so wie derzeit - ausführlich zu untersuchen und zu dokumentieren, blieb ihnen versagt. Zwangsläufig weisen ihre Studien einige Unklarheiten und Ungenauigkeiten auf, weder konnten sie einzelne Instrumente eindeutig als Originale oder Attrappen klassifizieren noch Fehler in den Messungen vermeiden.
    All diesen überlieferten Lücken und neuen Erkenntnissen sind nun 50 Partner auf der Spur, die sich - aus unterschiedlichsten Blickwinkeln - der Analyse und der Dokumentation, der Spielweise und dem Nachbau der Freiberger Renaissance-Instrumente widmen. Die Fäden, die sich von der Sächsischen Denkmalpflege über das Germanische Nationalmuseum Nürnberg und die Stiftung Kloster Michaelstein bis zum Dortmunder Institut für Spektrochemie quer durch Deutschland spannen, laufen an der Universität Leipzig zusammen. Dr. Eszter Fontana, Direktorin des Musikinstrumenten-Museums und Mitglied des Vorstandes am Institut für Musikinstrumentenforschung "Georg Kinsky" e. V., koordiniert das Projekt; Veit Heller vom Museum leitet als Instrumentenkundler die wissenschaftlichen Arbeiten. Nicht zuletzt die erfrischend reibungslose Zusammenarbeit mit den "hauseigenen" Instituten für diagnostische Radiologie sowie für Experimentelle Physik I weiß der Instrumentenforscher zu schätzen.
    In der Summe führen die vielfältigen Erkenntnisse zu neuen Überlegungen. So lassen sich die 30 Instrumente allesamt erzgebirgischen Werkstätten, meistenteils der des Georg Klemm zu Randeck, zuordnen; fünf Saiteninstrumente hat der Meister gar signiert - und den Historikern stellen sich Fragen nach dem Instrumentenbau in der Freiberger Region und im Erzgebirge, nach der Einfuhr von Tonholz aus den Alpen und nach dem Import italienischer Instrumente an den Dresdner Hof. So sind an Cistern Reste von Metallsaiten zu finden - und für Instrumentenbauer könnte nun ein exemplarischer Satz des Verschleißmaterials rekonstruiert werden. So weisen die Instrumente jeweils drei Anstriche auf, zuunterst eine rotbraune Lackierung, in der Mitte kupferfarbene Blattbronze und zuoberst Alcydharzlack - und den Restauratoren stellen sich die Fragen nach der historischen Zuordnung der einzelnen Schichten und nach den erforderlichen konservatorischen Maßnahmen. Und ebenso zeugt ein Instrument wie die Harfe, die in der spätmittelalterlichen Form ihres Korpus aus einem Stück Holz geschnitzt wurde, von einer ins 16. Jahrhundert tradierten Technik - und die Instrumentenforscher dürfen nun klären, ob dieses Instrument auch das älteste im Freiberger Ensemble ist. Das Spektrum der Thesen und Hypothesen, das sich aus der akribischen Dokumentation über die Instrumente ergibt, ließe sich in Breite und Tiefe ausdehnen. Selbst für das "Futter" der nächsten Forschergeneration wird schon heute gesorgt. In einem Zellophantütchen liegen die letzten Reste, die sich an und in den Instrumenten fanden, wohl verwahrt: dünne Holzspäne, krümeliger Wurmkot, rissige Lackspelzen, staubige Körner. Ein Pinselstrich, ein Luftzug hätten genügt und alles wäre verloren. Veit Heller dreht und wendet das schützende Beutelchen in der Hand. "Wer weiß, was die nächste Generation daraus zu lesen vermag."
    Entscheidend jedoch ist die feine, genaue Gestaltung nicht allein der originalen Instrumente, sondern auch der Attrappen. Der eine oder andere Schnitzer wäre beim Blick vom Boden hinauf zum 15 Meter entfernten Orchester wahrlich kaum zu sehen. Trotzdem sind selbst Imitate wie beispielsweise die zwei Posaunen derart getreu nachgebildet, dass ein aktueller Vergleich mit einer Originalposaune aus Nürnberg kaum einen Unterschied erkennen ließ - selbst das Schallstück wurde in der Werkstatt komplett ausgedrechselt und ebenso das Mundstück ausgedreht. Veit Heller misst dieser Präzision eine "hohe Bedeutung" bei. "Damals war Musik kein Hintergrundgedudel, sondern integraler Bestandteil des Lebens", vertieft er seinen Gedanken. Nach alter Tradition zählt die Musik zu den sieben freien Künsten; und die Welt, in der noch im 17. Jahrhundert Johannes Kepler darum rang, ihren Klang zu berechnen, wurde als Harmonia Mundi, eben als klingendes Universum, verstanden. Ließen sich damals Engel im Gewölbe eines Doms nieder, verkündeten sie: Jene Musik, die der Mensch hört, lässt ihn ein wenig teilhaben am universellen Weltenklang.
    Heute verbietet sich das Spielen der Freiberger Instrumente von selbst: Die Blasinstrumente würden unter der Feuchtigkeit, die Saiteninstrumente unter der Spannung leiden. Zudem gäben die Instrumente in ihrem aktuellen Zustand den originalen Klangeindruck nicht mehr wieder. Doch ihre erkennbar präzise Ausführung erlaubt es, sie als Modell für den Nachbau neuer Instrumente zu benutzen. Eine Schalmei und ein Krummer Zink sind als erste spielbare Kopien fertig. Und bereits die ersten Töne aus der so genannten Nullserie stellen die gängigen Meinungen über den geringen Tonumfang oder die blasse Klangfarbe der Renaissance dem Vergessen anheim. Veit Heller, der den Krummen Zink - das gebogene Holzblasinstrument geht auf das Jagdhorn zurück - bereits gehört und gespielt hat, fasst seinen Eindruck in die Worte: "Diese Instrumente sind viel näher am Vokalchor der Renaissance."
    Im nächsten Jahr, wenn die 30 Instrumente in den Freiberger Dom zurückkehren, können die Gäste der Sächsischen Landesausstellung in Torgau den himmlischen Klang erstmals erleben. Noch gibt es niemanden, der auf einer Geige der Renaissance spielt. Aber 2004 soll ein Ensemble von Musikern aus Lauten, Harfen, Violino piccolo, Schalmeien, Cistern, Violinen, Krummen und Geraden Zinken, Violen Triangeln, Schellentrommeln, Violincelli und Posaunen jene Töne und Melodien locken, die der Musik der späten Renaissance entsprechen. "Das wäre eine kleine Revolution in der musikalischen Aufführungspraxis für das 16. Jahrhundert." Eine kleine Revolution, die mit jeder Kopie aus den Instrumenten der Nullserie ihre Fortsetzung fände.
    Daniela Weber

    Weitere Informationen: Dr. Eszter Fontana
    Telefon: 0341 6870790
    E-Mail: fontana@uni-leipzig.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Kunst / Design, Musik / Theater
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     


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