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20.03.2003 16:13

Hummer on the Rocks - Neurobiologin erforscht das Nervensystem von Krebstieren

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Hummer - die einen lieben ihn am liebsten gekocht, nur mit etwas Butter, andere schwören auf die gratinierte Variante. Petra Skiebe-Corrette dahingegen liebt ihn kalt - eiskalt. Und sie will ihn lebendig, denn sie interessiert sich für sein Nervensystem. Krebstiere sind eines von mehreren Modellsystemen, an denen Neurobiologen versuchen zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert. Sie wollen herausfinden, wie es sich entwickelt, verändert und was den Unterschied zwischen einem gesunden und einem kranken Nervensystem ausmacht. Denn erst wenn Wissenschaftler das menschliche Gehirn mit all seinen Funktionen begreifen, besteht die Chance, bei Fehlfunktionen wie Alzheimer oder Parkinson die Ursachen zu korrigieren.

    Petra Skiebe-Corrette erforscht neuronale Netzwerke am Beispiel von Krebstieren (Crustaceen). Genauer gesagt geht es ihr um das Stomatogastrische Ganglion (STG) - einem Teil des Gehirns, der die Magenbewegungen steuert. Skiebes Team kooperiert mit internationalen Wissenschaftlern, die Crustaceen auf den Nerv fühlen, um irgendwann einmal zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. "Das menschliche Gehirn mit seinen etwa hundert Milliarden Nervenzellen ist unvorstellbar komplex", erklärt die Wissenschaftlerin. So macht es Sinn, erst einmal einfach aufgebaute Lebewesen zu untersuchen. Es geht um die neuronalen Grundlagen der Bewegung. Netzwerke aus Nervenzellen (Neuronen), die das Gehen, Fliegen, Schwimmen oder den Magen steuern, sind hierzu besonders geeignet, da die chemischen Nervensignale und die daraus folgende Bewegung beliebig oft reproduzierbar sind.

    Der Hummer hat in einer Eisbox gelegen und ist durch die Kälte betäubt. Rasch knipst der Doktorand Maurice Meseke mit der Schere die dürren Beine weg. Dann ein kurzer Schnitt durch das Bauchmark und Studienobjekt "HA-17/10" spürt nichts mehr; der Hummer ist sozusagen hirntot. Die meisten Köche kennen diese Stelle leider nicht, sondern lassen das Tier im kochenden Wasser zappeln. Wirbellose Tiere verfügen nicht über Schmerzrezeptoren wie wir Menschen, merken aber, dass etwas mit ihnen passiert.

    Meseke reduziert den Hummer auf das für ihn Wesentliche: Kopf und "Hals" - falls man das so nennen kann, denn bei diesen Tieren sind Kopf und Rumpf miteinander verschmolzen - werden voneinander getrennt. Der Magen befindet sich an einer ungewöhnlichen Stelle: gleich hinter dem Gehirn. Cremefarben ist das Gewebe, das jetzt in einer Glasschüssel mit Nährlösung unter dem Lichtkegel liegt und aus dem es den Magen frei zu präparieren gilt. Mit feinen, suchenden Schnitten tastet sich der Biologe in einem Wirrwarr aus Muskelfasern und Bindegewebe vor. Immer auf der Hut, keine wichtige Nervenfaser zu durchtrennen. Das sind hauchdünne, milchig-weiße Fädchen, die sich farblich kaum vom umliegenden Gewebe unterscheiden. Manchmal zieht er an einem, um zu sehen wo es hinführt. Dann liegt der Magen endlich frei - groß wie eine Wallnuss.

    Drei rotbraune, raspelartige Zähne kommen zu Tage - eine anatomische Anpassung an ungewöhnliche Essmanieren. Mit den Scheren zerreißen Krebstiere das Futter nur grob, bugsieren es dann mit Hilfe der Manibeln (kleinen Mundwerkzeugen) in den Ösophagus, eine Art Speiseröhre. Im sich anschließenden Speisesack wird enzymatisch vorverdauert, dann geht es weiter in die "Gastrische Mühle", wo die Zähne das Fressen zerreiben. Im vierten Magenteil, dem Pylorus, werden schließlich die Nährstoffe aus dem Brei gefiltert. Nach zwei Stunden Feinstarbeit ist es soweit. Das Nervensystem ist vom Magen getrennt und wird nun mit feinen Nadeln in einer Petrischale aufgespannt.

    Der Hummermagen ist völlig anders aufgebaut als der menschliche, aber ein ideales Modellsystem für das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln. Nur dreißig, dafür aber recht große Neuronen steuern die gesamten Bewegungsabläufe. "Und die sind uns alle persönlich bekannt." Besonders interessieren Skiebe-Corrette die neuromodulatorischen Substanzen, Hunderte von Eiweißstoffen (Peptiden), die die Neurone stimulieren, bestimmte "Verschaltungen" aktivieren und dadurch spezifische Bewegungsmuster der Magenmuskulatur auslösen. Viele dieser Peptide kommen auch in höheren Lebewesen vor - auch beim Menschen.

    Vier kleine Nervenknoten und ein ganz winziger - der wichtigste: das stomatogastrische Ganglion (STG) - sind über fadenförmige Nerven miteinander verknüpft. Im STG sitzen die besagten dreißig Neuronen, kleine Knötchen. Ihre Aktivität lässt sich noch über 24 Stunden lang mit Elektroden messen. Doch das ist heute nicht das Ziel. Maurice Meseke will untersuchen, welche Neuronen das Peptid Tachykinin enthalten. Dazu wird das Gewebe zuerst fixiert, gewaschen und entfettet, anschließend für zwei Tage mit Tachyikinin-Antikörpern getränkt und erneut gewaschen. Mit einem zweiten Antikörper, an dem ein Fluoreszenzmaker hängt, wird dann der erste aufgespürt. Unter dem Laserscanningmikroskop erscheinen am Ende die Tachykinin haltigen Neuronen als farbige Kleckse.

    Zusammen mit dem Biochemiker Mathias Dreger gelang es Petra Skiebe-Corrette kürzlich, die Peptidmengen aus einem einzelnen Neuron zu isolieren und deren Zusammensetzung zu identifizieren. Mit hochempfindlichen Methoden wie der MALDI-TOF-Massenspektroskopie konnten die Forscher die winzigen Molekülmengen messen. Ergänzende elektrophysiologische Untersuchungen zeigen, welchen Einfluss das bewusste Peptid auf das gesamte Netzwerk der dreißig Neuronen hat. Und so resümiert Skiebe-Corrette: "Erst wenn wir die kleinen neuronalen Netzwerke verstanden haben, können wir die Geheimnisse des komplexen menschlichen Gehirns entschlüsseln". Ein Ziel, das noch in weiter Ferne liegt.

    von Catarina Pietschmann

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Petra Skiebe-Corrette, Institut für Biologie (Neurobiologie) der Freien Universität Berlin, Königin-Luise-Str. 28-30, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-54905, E-Mail: skiebe@zedat.fu-berlin.de


    Bilder

    Der schematische Aufbau eines Krebstieres: Nervensystem (orange), Herz (rot) und die vier Magenteile, Ösophagus (violett), Speisesack (grün), Gastrische Mühle (hellblau) und Pylorus (blau).
    Der schematische Aufbau eines Krebstieres: Nervensystem (orange), Herz (rot) und die vier Magenteile ...

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    Fünf Nervenknoten hat der Hummer zur Steuerung der Magenbewegungen. Das STG enthält die wesentlichen dreißig Neuronen (links). Rechts eine Laserscanning-Mikroskop-Aufnahme des STG mit einzelnen Neuronen (weiße Knötchen).
    Fünf Nervenknoten hat der Hummer zur Steuerung der Magenbewegungen. Das STG enthält die wesentlichen ...

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Informationstechnik, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Der schematische Aufbau eines Krebstieres: Nervensystem (orange), Herz (rot) und die vier Magenteile, Ösophagus (violett), Speisesack (grün), Gastrische Mühle (hellblau) und Pylorus (blau).


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    Fünf Nervenknoten hat der Hummer zur Steuerung der Magenbewegungen. Das STG enthält die wesentlichen dreißig Neuronen (links). Rechts eine Laserscanning-Mikroskop-Aufnahme des STG mit einzelnen Neuronen (weiße Knötchen).


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