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20.05.2003 14:52

Wann spricht der Völkerrechtler von Genozid?

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Im März nahm der Internationale Strafgerichtshof mit der feierlichen Amtseinführung von 18 Richtern in Den Haag seine Tätigkeit auf. Künftig ist es ihre Aufgabe, über die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten zu entscheiden, denen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. In diesem Kontext gilt, es genau zu bestimmen: Welche Handlungen stellen Genozid bzw. genozidähnliche Tatbestände dar? Der Jurist Dr. Frank Selbmann hat zu diesem Problem an der Universität Leipzig promoviert.

    Als 1946 ein US-Militärgericht die Juristen des Dritten Reiches anklagte, die mit den Rassengesetzen den Grundstein für den Holocaust gelegt hatten, definierte erstmals ein Gericht den "Genozid" als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zwar war der Begriff "Genozid", der 1944 durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin begründet worden war, bereits zuvor von Anklägern in anderen Prozessen verwendet worden. Doch als 1947 das Urteil im Juristenprozess gesprochen wurde, ging nunmehr der Begriff "Genozid" als qualifizierter Begriff in die Rechtssprechung ein. Im Jahr darauf schließlich schlugen sich Lemkins Überlegungen in der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes", die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 verabschiedete, nieder. "Danach jedoch wurde die Konvention kaum angewandt", sagt Dr. Frank Selbmann. Der Leipziger Jurist hat sich des Themas angenommen. Als einer der ersten seines Fachs diskutierte Dr. Selbmann den Begriff des Genozids aus rechtswissenschaftlicher Sicht - am Institut für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität Leipzig legte er zu "Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht" seine Promotion vor. Die Publikation markiert zugleich den Auftakt der neuen Schriftenreihe, die - beginnend mit diesem Jahr - der Leipziger Universitätsverlag zum Völkerstrafrecht herausgibt.
    Mit den Strafgerichtshöfen, die von der UNO 1993 für das ehemalige Jugoslawien und 1994 für Ruanda eingerichtet worden waren, gewann die Genozid-Konvention von 1948 neue Beachtung - ihr kam nun die Funktion eines Leitfadens für Anklageerhebung und Urteilsfindung zu. Mittlerweile haben die beiden Internationalen Strafgerichtshöfe, insbesondere der Ruanda-Gerichtshof, eine umfassende Rechtssprechung zum Tatbestand des Genozids vorgelegt; zudem sprachen bundesdeutsche Richter vier Urteile zum Völkermord - in der Summe liefert das Material genug Stoff und Grund, die Rechtssprechung und die Auslegung des Tatbestandes "Genozid" genauer zu untersuchen.
    Schon eine erste Betrachtung der bislang ergangenen Urteile erhellt aus Sicht von Dr. Selbmann: "Bei der Verwendung des Begriffs 'Völkermord' zeigen sich Unterschiede und Unsicherheiten, letztere vor allem mit Blick auf den Jugoslawien-Gerichtshof." Der Eindruck, dass die UN-Konvention verschieden interpretiert wird, begründet Dr. Selbmanns Ansinnen, sich als Experte im Völkerstrafrecht der Klärung des Tatbestandes Genozid anzunehmen. Zudem votiert der Leipziger Jurist mit seiner Studie gegen den Missbrauch des Begriffs. Beispielweise wird "Genozid" benutzt, so einer der propagandistischen Fälle, den er gefunden hat, um die Art und Weise der Übertragung des Aids-Virus zu brandmarken - zu Unrecht. "Der Begriff muss wirklich auf die schwersten Verbrechen beschränkt bleiben", resümiert der 32-Jährige.
    Der Leipziger bringt den Vorteil in seine Analyse ein, die beiden internationale Institutionen aus eigener Praxis zu kennen: Am Jugoslawien-Gerichtshof arbeitete Selbmann als Referendar; am Ruanda-Gerichtshof weilte er als Mitglied des Komitees für ein effektives Völkerstrafrecht (COEICL), das hauptsächlich von einstigen Praktikanten und Mitarbeitern am Jugoslawien-Gerichtshof gegründet wurde. Von Konstanz aus strebt das Komitee nach einer Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts und bietet zugleich Schulungen u. ä. für Studenten und Juristen an. Nach der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der mit der Vereidigung von 18 Richtern im März seine Arbeit aufgenommen hat, geht es den COEICL-Mitgliedern nunmehr darum, dessen Wirken kritisch zu begleiten. An dieser Stelle dient Dr. Selbmanns Promotion auch der Verknüpfung von Völkerstrafrecht und NGO-Engagement.
    In der Untersuchung der Urteile, die von den Strafgerichtshöfen zu Jugoslawien und Ruanda sowie von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht zum Völkermord gesprochen wurden, zeichnet Dr. Frank Selbmann folgendes Bild:
    In der Rechtssprechung zu Ex-Jugoslawien "ist relativ zurückhaltend geurteilt worden". Mit Nachdruck verweist Dr. Selbmann darauf: "Wenn jemand wegen Völkermord verurteilt werde soll, dann muss die Absicht, dass eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise ausgelöscht werden sollte, erwiesen sein." Andere Tatbestände, so die Erfahrung, sind leichter zu belegen und zu ahnden: Bei Beihilfe zum Völkermord muss Angeklagten "lediglich" nachgewiesen werden, dass sie Kenntnis von der Absicht des Völkermordes hatten; Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - als gleichrangige Tatbestände zum Genozid - sind einfacher nachzuweisen, so dass dann auf die Anklage wegen Völkermordes verzichtet wird. Dr. Selbmann sieht dies durchaus kritisch: "Wir Juristen sind gewohnt, zu abstrahieren. Aber den Opfern ist ein solches Vorgehen kaum zu vermitteln." Aus seiner Erfahrung im COEICL spricht er sich dafür aus, "den Anspruch der betroffenen Völkergruppen als Opfer zu respektieren".
    Dem Strafgerichtshof zu Ruanda, der seit Mitte der 1990er in acht von neun Fällen zu einer Verurteilung wegen Völkermordes kam, attestiert Dr. Selbmann im Grundsatz eine "mutige, wegweisende Entscheidung". Die Richter dehnten den Schutz, den die UN-Konvention von 1948 für nationale, ethische, rassische oder religiöse Gruppen gewährt, auf "alle stabilen Gruppen" aus.
    Die Urteile der deutschen Justiz hat Dr. Selbmann in Bezug zu denen des Jugoslawien-Gerichtshofes gesetzt. In ihnen spiegelt sich die generelle Diskussion um die Frage wider, ob ethnische Säuberungen - die Mord, Vertreibung, Vergewaltigung u. a. Verbrechen umfassen - mit dem juristischen Tatbestand des Völkermordes zu ahnden sind. Das Problem liegt darin, eindeutig zu klären: Ist es das Ziel der Täter, die betreffende Gruppe aus einem Gebiet zu vertreiben oder die Gruppe - auch mittels Vertreibung - in ihrer Existenz zu vernichten. "Bei identischen Ereignissen ergeben sich - entsprechend dem deutschen Strafrecht und entsprechend dem Statut des Internationalen Jugoslawien-Gerichtshofes - unterschiedliche Auslegungen des Tatbestandes des Genozids." Wie inzwischen fast allgemein anerkannt, versteht auch der Bundesgerichtshof die UN-Konvention dahingehend, dass im Prinzip die Tötung eines Mitglieds einer Gruppe den Tatbestand des Genozids erfüllt, sofern dies mit Absicht auf die Vernichtung der gesamten Gruppe zielt. Jedoch eröffnet sich dabei das Problem, dass sowohl bei Vertreibungen (in Ex-Jugoslawien als "ethnische Säuberungen" benannt) als auch bei der Unterwerfung unter unmenschlichste Lebensbedingungen die Absicht der Vernichtung nur äußerst schwer zu belegen ist.
    Aus der dreifachen Perspektive ergeben sich für Dr. Frank Selbmann mehrere Aspekte, die künftig in die Bestimmung und Klärung des Begriffs "Genozid" eingehen könnten. Erstens ist mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes von Den Haag, als dessen Vorläufer die Internationalen Tribunale zu Jugoslawien und Ruanda gelten, eine entscheidende Schwäche der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" (1948) behoben: Jetzt existieren Gremium und Mechanismen, den Tatbestand des Genozids tatsächlich vor Gericht anzuklagen und zu verurteilen. Auf dieses Ziel haben Politiker und Wissenschaftler seit dem Zweiten Weltkrieg hingearbeitet. Zweitens sieht der Jurist die Chance, die Lücken, die der Tatbestand des Genozid in Bezug auf den Begriff "Gruppe" sowie auf die Handlungen des Genozids aufweist, zu schließen: So spricht er sich zum einen für das umfassende Verständnis von Gruppe als "eine vom Täter definierte identifizierbare Gruppe" aus - eine gleichwohl kleine oder große Anzahl von Kriterien könnte die eine oder andere Gruppe ausgrenzen. "Die erste Stufe zum Völkermord", so Dr. Selbmann, "ist immer die Definition durch den Täter." Zum anderen regt er an, zu überlegen und zu prüfen, inwiefern die Auslöschung charakteristischer kultureller oder auch ethnischer Merkmale einer Gruppe den Tatbestand des Genozid erfüllen oder inwiefern derartige Handlungen bereits dem Tatbestand unterliegen.
    Angesichts des Risikos jedoch, "dass bei einer Revision der Genozid-Konvention von 1948 zu restriktive Anforderungen an eine neue Definition von Genozid gestellt werden", favorisiert Dr. Selbmann bereits vorhandene Ansätze, die Lücken zu schließen: Die erstgenannte Lücke wird zum einen im Bereich des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) weitgehend durch den Tatbestand der Verfolgung einer "identifizierbaren Gruppe" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschlossen; zum anderen könnte - ausgehend von der Rechtssprechung des Ruanda-Strafgerichtshofes - ein neues Völkergewohnheitsrecht entstehen, das alle stabilen Gruppen schützt. Auch die zweitgenannte Lücke ist im Wirkungsfeld des IStGH geschlossen - laut Statut des IStGH sind Verbechen, die sich gegen charakteristische kulturelle Merkmale einer Gruppe richten, bereits durch den Tatbestand "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" abgedeckt.
    Folglich lenkt Dr. Frank Selbmann das Hauptaugenmerk seines Resümees in zwei Richtungen. Er plädiert dafür, "effektive Präventionsmechanismen zu schaffen" - in Ruanda hat die internationale Gemeinschaft drei Monate dem Völkermord zugesehen, ohne einzugreifen. Und er betont: "Es ist wichtig, die Täter zu verurteilen und Genugtuung für die Opfer zu erlangen."
    Daniela Weber

    Frank Selbmann: Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht (Schriftenreihe zum Völkerstrafrecht, Band 1). Universitätsverlag Leipzig 2003. 25 Euro

    Weitere Informationen: Dr. Frank Selbmann
    Telefon: 0341 - 225 39 00
    Fax: 0341 225 39 01
    E-Mail: selbmann@selbmann-bergert.de
    Internet: www.selbmann-bergert.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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