„Der Wert der Dinge“: Neue Ausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“ (Heft 3/2016)
Die materielle Dimension sozialer Praktiken wurde in der Zeitgeschichte lange vernachlässigt. Inzwischen hat das fächerübergreifende Interesse an materieller Kultur aber auch die zeithistorische Forschung erreicht. Das Themenheft beschäftigt sich unter anderem mit Konservierungstechniken und dem Wandel des Kunstmarktes im 20. Jahrhundert, mit Baustoffen und den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, mit Babyfläsch-chen und Familienstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland und in Schweden sowie mit der Raumgestaltung von Arbeitsämtern in der Bundesrepublik und in Großbritannien.
Dabei geht es nicht in erster Linie um materielle Objekte als solche, sondern vor allem um die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen: Wie wirkt sich der Gebrauch bestimmter Dinge in bestimmten Zeiten auf menschliche Handlungen aus? Welche Verhaltensweisen werden ermöglicht oder auch verhindert? Welche Verbindungen ergeben sich dabei zwischen lokalen, nationalen und globalen Handlungsräumen? Die Einbeziehung dinghistorischer Perspektiven ermöglicht umfassendere Antworten auf sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragen nach gesellschaftlichen Asymmetrien und Wertsetzungsprozessen.
Johannes Gramlich untersucht, wie sich die materielle Beschaffenheit von Kunstgegenständen auf den Kunstmarkt und seine Akteure auswirkte. Hier ist die Relevanz der Frage nach dem „Wert der Dinge“ besonders offenkundig. Alarmiert durch den schlechten Zustand, in dem sich die öffentlichen Kunstsammlungen präsentierten, entwickelte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlich-technologischer Fachbereich zur Analyse von Kunstmaterialien. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse steigerten den Aufwand immens, der betrieben wurde, um Kunstwerke sachgerecht unterzubringen, zu versorgen und zu transportieren. Dies beeinflusste auch die Sichtbarkeit und den ökonomischen Wert von Werken bildender Kunst. In Fragen der Authentifizierung waren die naturwissenschaftlichen Methoden dem Wahrnehmungsapparat der Menschen teilweise überlegen; so erschütterten sie das menschliche Selbstverständnis dabei grundlegend.
Anna Karla plädiert dafür, die Sachlieferungen als einen wesentlichen Bestandteil der Reparationsbestimmungen des Versailler Vertrags von 1919 zu interpretieren. Anhand der zeitgenössischen Diskussionen über geplante Lieferungen von Baumaterial nach Nordfrankreich kann sie zeigen, welche Erwartungen die deutsche Seite mit diesen Reparationsleistungen verknüpfte: Aus Sicht der Politik sollten Sachlieferungen dazu beitragen, die Gesamtsumme der Reparationen zu mindern. Findige Unternehmen hofften schon 1919 auf einträgliche Geschäfte, etwa durch den Verkauf von Fertighäusern. Selbst wenn die Lieferung in die Aufbaugebiete Nordfrankreichs in der Praxis begrenzt blieb, eröffnen die damit verbundenen Debatten neue Perspektiven auf die Geschichte des Nachkriegs.
Verena Limper betrachtet die Nutzung der Säuglingsflasche für die Zeit ab den 1950er Jahren: Wie kam sie in die Familie, und wie veränderte sie die Beziehungen von Müttern, Vätern und Säuglingen? Müttern versprach die Säuglingsflasche mehr Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags; Vätern ermöglichte sie es, ihre Männlichkeit neu zu definieren, indem die Väter ihre Babys selbst fütterten. Eher als in der Bundesrepublik wurde in Schweden die Versorgung von Kleinkindern diskutiert und eine stärkere Mitverantwortung der Männer für die Familie gefordert. In beiden Ländern veränderte die Säuglingsflasche die Familienbeziehungen – und dies war jeweils mit Kontroversen verbunden.
Wiebke Wiede untersucht die Gestaltung von Arbeitsämtern in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien während der 1970er und 1980er Jahre, einer Zeit deutlich gestiegener Arbeitslosenzahlen. Im Fokus stehen die Verwaltungsvorgänge, begriffen als soziale Praktiken und Mensch-Ding-Verhältnisse. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie analysiert die Autorin die Konstellationen von Bürogestaltungen, Aktenordnern, Wartenummern und Stellenaushängen. Sie verfolgt auch die Technisierung der administrativen Vorgänge, also den vermehrten Einsatz von Apparaten und EDV-Systemen in bundesdeutschen und britischen Arbeitsverwaltungen. In beiden Ländern wurde „Selbstbedienung“ zu einem neuen Verhaltensdispositiv, das sich in den neu eingerichteten britischen Jobcentres jedoch schneller durchsetzte als im traditionellen deutschen Arbeitsamt.
Der Aufsatzteil wird ergänzt durch Beiträge in den Rubriken „Debatte“, „Essay“, „Quellen“, „Neu gelesen“ und „Neu gehört“. Das Themenheft richtet sich an alle, die sich für den sozialen Stellenwert materieller Kultur im 20./21. Jahrhundert interessieren.
Herausgegeben haben das aktuelle Heft Simone Derix (Ludwig-Maximilians-Universität München/Goethe-Universität Frankfurt a.M.), Benno Gammerl (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin), Christiane Reinecke (Universität Leipzig) und Nina Verheyen (Universität zu Köln).
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Dr. Jan-Holger Kirsch
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Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint dreimal jährlich gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access.
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http://www.zzf-pdm.de – Website des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam
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Umschlagbild Zeithistorische Forschungen Heft 3/2016: Arbeiterin bei »Telefonbau und Normalzeit«, Fr ...
ZZF Potsdam
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Umschlagbild Zeithistorische Forschungen Heft 3/2016: Arbeiterin bei »Telefonbau und Normalzeit«, Fr ...
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