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29.07.2003 11:18

Lust auf Sommerfrische! Oder: Ohne Naunhof kein Mallorca

Dr. Bärbel Adams Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Die Sommerfrische lockt. Hinaus aus der Stadt. Fort von den staubigen Straßen und rauchenden Fabriken, raus aus lärmendem Verkehr und engen Wohnungen. Hinaus aufs Land. So war's wohl - in der "guten alten Zeit".

    Die "Sommerfrische" kann auf ein langes Leben zurück blicken: Der früheste Beleg über das Wort stammt aus dem Jahr 1511, für Urlauber wurde sie seit den 1850er Jahren hergerichtet. In den 1920er Jahren verdrängten andere Begriffe die "Sommerfrische", heute nun nutzt die Werbung den nostalgischen Hauch, der von ihr ausgeht; derweil gilt dem aktuellen Duden das Wort als "veraltend". "Noch", meint Andreas Mai. Der Leipziger Kulturhistoriker hat über die "Sommerfrische" promoviert.

    Sommerfrische? Andreas Mai ist 1970 geboren, und als er nach einem Thema für seine Dissertation suchte, war er es gewohnt, in die Ferien zu fahren. Die Sommerfrische gehörte zur Generation seiner Urgroß- und Großeltern, auch die seiner Eltern wusste das Wort noch als Synonym für Urlaub zu deuten. Dem jungen Kulturhistoriker an der Universität Leipzig jedoch klang ein "nettes, aber leeres" Wort in den Ohren, als er bei ersten Recherchen zu Ferienformen in den 1920er Jahren plötzlich auf die "Sommerfrische" stieß. Was sich dahinter verbarg? "Darüber wusste ich gar nichts." Das Staunen ist ihm treu geblieben, jetzt - nach vier Jahren auf den Spuren der "Erfindung und Entdeckung der Sommerfrische" - begegnet es ihm immer dann wieder, wenn er Vorträge hält oder Tagungen besucht. Dann stutzen jüngere wie ältere Kollegen - während die einen mit dem Begriff nichts anzufangen wissen, erinnern sich die anderen an die Ferienaufenthalte ihrer Kindheit. "Bis in die 1950er Jahre hinein wurde 'Sommerfrische' als Synonym für Urlaub benutzt", erhellt Dr. Andreas Mai die Reaktionen. "Danach verschwand das Wort aus dem Gebrauch."

    Doch wo kam es her? Das war die Frage, der Mais Neugier letztlich folgte. Zunächst "stolperte" er über eine Dissertation von 1960, in der der Soziologe Hans-Joachim Knebel verschiedene Reisetypen, darunter die Sommerfrische, beschrieben hatte. Aber: "Das Bild, das seither immer wieder rezipiert wurde, hatte der Autor ohne jegliche Quellen gemalt." Folglich lenkte der Leipziger Kulturhistoriker sein Interesse auf die Praxis der Sommerfrische im 20. Jahrhundert. Und alsbald wurde ihm klar: Ein Thema zu erfassen, dessen Entstehen - wie sich zeigte - noch im Dunkeln lag, stellt sich als kompliziert dar. Er ging also wiederum weiter, nunmehr zurück in die Jahrzehnte zwischen 1850 und 1920, die sich als jene Zeit erwiesen, in der die Sommerfrische als Synonym für neue touristische Praktiken und Räume etabliert wurde. Stammte der früheste Beleg über das Wort aus Südtirol aus dem Jahr 1511, wurde es in einem neuen Verständnis - als Vorläufer der heutigen Begriffe "Urlaub" und "Urlaubsort" - seit den 1850er Jahren in Deutschland verwendet. Dabei verbanden sich mit dem Wort zwei Bedeutungen: sowohl die Praxis, in die Sommerfrische zu fahren, als auch die Orte, die sich für die Sommerfrische anboten.

    Der Tourismushistoriker Dr. Hasso Spode, der als Privatdozent in Berlin und Hannover lehrt, bestärkte den Leipziger Kulturhistoriker in seinem Unterfangen, das - angesichts der "Exotik" des Fachs und des Themas - ein weites Forschungsfeld bot. Noch steht die Tourismusgeschichte in Deutschland am Anfang. Und wer, wie Andreas Mai, zudem die Verbindung zur Raumforschung knüpft, der stößt in Neuland vor. Die Dissertation, die Andreas Mai derzeit zur Publizierung vorbereitet, erhellt die Entstehung, die Ausbreitung, die Nutzung und den Wandel von touristischen Räumen am Beispiel der Sommerfrische; zeitlich vertieft sich Mai in das 19. Jahrhundert, lokal lässt er sich in Sachsen nieder.

    Ausgehend von der Urbanisierung und Industrialisierung, von wachsenden Städten und ausgreifenden Verkehrsverbindungen wandelte sich die übliche sommerliche Praxis: Wechselten vormals gehobene bürgerliche Familien aus Leipzig - die Handels- und Industriestadt, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine der bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands, hat sich Andreas Mai als Fallbeispiel ausgewählt - in die Sommerlogis vor die Tore der Stadt nach Gohlis und Connewitz, stieß diese gängige Praxis um 1850 an ihre Grenzen. Leipzig dehnte sich ins Umland aus und griff auf naheliegende Dörfer über - Reudnitz und wandelten sich zu Industriestädten, am Ende des 19. Jahrhunderts fuhr die Straßenbahn in die ehemaligen Dörfer rund um Leipzig. Die sommerliche Abgeschiedenheit bedurfte neuer Orte, neuer Räume. Erfunden und eingerichtet wurde die Sommerfrische.

    Detailliert - an Hand von Gemeindeakten und Vereinsprotokollen, von zeitgenössischer medizinischer Literatur und Anstandsbüchlein, von Zeitungen und Zeitschriften wie der "Gartenlaube" und von Einzelquellen wie Briefen und Postkarten sowie unter Verflechtung der Tourismusgeschichte, der Bürgertumsforschung, der Geschichte der Urbanisierung, der Werbung und der Medizin - erhellt Mais Dissertation die Voraussetzungen und die Bedingungen für die Konstituierung touristischer Räume, fragt nach jenen Akteuren, die diesen Räumen ihre Bedeutung zuschrieben und fragt ebenso nach, wer sich in diesen Orten wiederfand, wer die geschaffenen Räume beanspruchte, die entworfenen Regeln ausprobierte und auf diesem Wege ebenfalls an der Erfindung und Einrichtung touristischer Räume wirkte.

    "Zuerst", erläutert Mai, "wurde die Sommerfrische als medizinischer Raum entworfen." Um die Mitte des 19. Jahrhunderts warnten so genannte medizinische Klimatologen davor, dass nicht allein die gefährliche Tuberkulose die Gesundheit der Menschen gefährde, sondern dass auch die Stadt an sich mit ihrer Enge, ihrem Lärm und ihrem Schmutz Erkrankungen hervorrufe. Und um in derartigen Umständen zu überleben, bedürfe der Städter mindestens einmal jährlich des Aufenthaltes in gesunden Räumen, um Kraft und Energie zu tanken. Die Luft - rein, klar, gesund - galt den medizinischen Klimatologen als neues Allheilmittel. Wurde sie anfänglich ausschließlich außerhalb Deutschlands, beispielsweise in den Alpen "erschnuppert", versuchten deutsche Ärzte nachzuweisen, dass sie auch in hiesigen Mittelgebirgen und selbst im ländlichen Umland der Städte zu finden sei. Ab den 1870er Jahren galt "Sommerfrische" als vertrauter, bekannter Begriff in Deutschland. Um die "richtige" Einrichtung gab es langwierige Debatten in medizinischen und populären Zeitschriften. "Um als Sommerfrische zu bestehen, genügte es allerdings meist", erläutert Andres Mai, "wenn es entweder eine Gastwirtschaft mit Pension oder Privatquartiere gab." Folglich entstanden am Ende des 19.Jahrhunderts Sommerfrischen quer durch Deutschland. Darunter Naunhof, eine Ackerbürgerstadt knapp 20 Kilometer vor den damaligen Toren Leipzigs, die plötzlich zu einem beliebten Ferienort der Großstädter avancierte. Am Beispiel dieser Gemeinde zeigt Mai zwei Aspekte auf. Zum einen, wie und von wem ein neuer Raum als Sommerfrische vorbereitet wurde - so durch die Einrichtung von Unterkünften, Gastronomie, Wanderwegen, aber auch medizinischen Badeanstalten ... Und zum anderen, wie eine bestehende Sommerfrische von konjunkturellen Schwankungen getroffen wurde - in diesem Falle derart, dass Orte wie Naunhof oder auch Leisnig als Urlaubsorte scheiterten. Andere aufstrebende Gemeinden wie etwa im Erzgebirge, im sächsischen Muldental und im Thüringer Wald warben hingegen erfolgreicher in Leipzig um Sommerfrischler; heute können sie auf eine lange Tradition als Ferienorte zurückblicken. Die reicht in jene Zeit zurück, in der es - für uns heute kaum vorstellbar - etwas weithin Neues war, sich zwecks "Erholung" auf Reisen zu begeben. So gehören die Leipziger Sommerfrischler in Naunhof quasi zu den Vorgängern der deutschen Urlauber in Griechenland, auf Mallorca, in Irland oder ...

    weitere Informationen:
    Dr. des. Andreas Mai
    E-Mail: amai@uni-leipzig.de

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:

    http://www.uni-leipzig.de/zhs/promo/doktora/dissert/mai.html


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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