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28.11.2003 10:58

Zeitreise zu den Nomaden

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Gegenwärtig beraten Historiker, Ethnologen, Orientalisten, Ägyptologen, Geographen, Archäologen aus dem In- und Ausland auf dem Internationalen Symposium "Nomaden und Sesshafte in Geschichte und Gegenwart" in Wittenberg und ziehen eine Bilanz der bisherigen zweieinhalbjährigen Arbeit im Sonderforschungsbereich 586 ("Differenz und Integration"), der gemeinsam von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universität Leipzig getragen wird.

    Das Paradigma steht: "Nomadismus ist Teil eines größeren Systems." Der klare Satz von Bernhard Streck, Professor für Ethnologie an der Universität Leipzig, bündelt das Erkenntnisinteresse des Sonderforschungsbereiches 586. Seit 2001 fragen Geisteswissenschaftler verschiedenster Disziplinen nach dem Wechselspiel zwischen nomadischen und sesshaften Menschen in Geschichte und Gegenwart, sie dringen in eine Koexistenz ein, "die Zivilisationen in weiten Teilen der Welt und über lange Zeiträume geprägt hat und noch heute, wenn auch unter anderen Bedingungen, wirksam ist". Nach Studien quer durch die Fachgebiete und Zeiten - Ethnologen, Historiker, Orientalisten, Philologen, Geografen und Archäologen "reisten" vom Zweistromland 3000 v. u. Z. bis ins Istanbul des Jahres 2003 - formulieren die Forscher jetzt: Der postpaläolithische Nomadismus ist wahrscheinlich ein uraltes Muster, das vor über 5000 Jahren vom Zweistromland ausging, sich immer wieder als anpassungsfähig erwies und bis heute lebensfähig ist. "Die vorindustrielle Arbeitsteilung, ein System, zu dem Städte, Tempel, Zentralverwaltung, Bauern und eben Pastoralisten gehörten, schwebt uns als Leitbild vor." Prof. Streck, der den SFB als stellvertretender Sprecher vertritt, summiert die aktuelle Forschung und skizziert künftige Aufgaben: "Jetzt verifizieren und überprüfen wir dieses Paradigma in verschiedenen Gegenden und zu verschiedenen Zeiten."
    Das Fazit des bisherigen Weges und die Basis für die nächsten Schritte bestimmt der Sonderforschungsbereich 586 mit dem Internationalen Symposium "Nomaden und Sesshafte in Geschichte und Gegenwart". Noch bis zum 29. November beraten in Wittenberg (Stiftung LEUCOREA, Collegienstraße 62) Forscher aus Leipzig und Halle/S., aus Madison und Tel Aviv, aus Moskau und Bayreuth. Anwesend sind auch die Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die im Frühjahr 2004 über die Fortsetzung des SFB bis 2008 befinden wird. Die Wissenschaftler verständigen sich in drei Schwerpunkten über Nomadismus in der Gegenwart, Nomadismus in der Geschichte sowie Nomadismus als Wahrnehmungsproblem. Für Prof. Streck steckt in der Tagung eben jene Spannung, von der auch der SFB lebt: "Mehrstimmigkeit ist in den Humanwissenschaften ein Qualitätszuwachs." Trotzdem, für ihn ist es keineswegs selbstverständlich, wenn sich Vertreter so verschiedener Disziplinen wie Ethnologie, Orientalistik, Geschichts-, Literaturwissenschaft und Archäologie ausführlich über das Verhältnis zwischen Nomaden und Sesshaften, zwischen den mythologischen Figuren Kain und Abel unterhalten. Fast drei Jahre haben sie gelernt, einander zuzuhören. Sie haben sich füreinander geöffnet und miteinander gestritten. Für das eigene Fach beschreibt Prof. Streck den Gewinn: "Für Ethnologen ist es hochinteressant zu wissen, dass der Nomadismus eine sehr alte Kulturtradition hat, mit der sich auch andere Disziplinen beschäftigen."
    Historiker scheiden sich seit dem 19. Jahrhundert an der Frage, ob Nomaden eine entscheidende weltgeschichtliche Rolle spielten. Die Antworten schlugen sich in zwei Positionen nieder: Die eine versteht Nomaden als stets abhängige, niemals selbstständige oder gar geschichtsmächtige Bevölkerungsminderheit; die andere gesteht den Nomaden ein Staaten bildendes Gewicht zu. Letztere, die so genannte Überlagerungstheorie, fand im 20. Jahrhundert viele Anhänger - bis heute greifen Staaten wie Ungarn, die Mongolei, die Türkei und die arabischen Länder in ihrem Selbstbild auf diesen Ansatz zurück; ebenso beziehen einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion den Nimbus der Reiterkrieger und Hirten in ihre Historiographie ein - sei es in den mittelasiatischen Staaten als Erinnerung an die Eroberer und Helden oder in Russland als Erinnerung an die Bedrohung durch Barbaren. "Diese gespaltene Wahrnehmung wird uns noch lange beschäftigen", vermutet Prof. Streck.
    Als erster vertrat der russische Historiker Anatoly Khazanov, inzwischen Professor an der Universität von Madison/USA, die These: Pastoralisten existieren nicht für sich, Pastoralisten sind angewiesen auf einen regen Austausch mit Bauern und Städten. Zum Wittenberger Symposium gibt der international geachtete Altmeister der Nomadismusforschung einen historischen Überblick über "Nomaden und Städte in der eurasischen Steppe" geben. Khazanovs Leitidee wird inzwischen auch durch Studien des SFB untermauert: So untersucht die iranische Archäologin Marjan Mashkour Knochen und Zahnbelag domestizierter Tiere, um für die betreffende Fundregion jenen Zeitpunkt zu finden, an dem die Herden-Tierhaltung und somit der Pastoralismus einsetzte. Die bisherigen Analysen bekräftigen die Grundlinie der Entwicklung des Nomadismus, der nach der neolithischen Sesshaftwerdung des Menschen, nach der Erfindung des Feldanbaus und der Domestikation der Haustiere einsetzte. Aus dieser Linie speisen sich nun weitere Untersuchungen, die SFB-Forscherin Gundula Tauscher M.A. (Halle/S.) oder Prof. Andreas Furtwängler (Halle/S.) zu den Reiternomaden südlich des Kaukasus führen. Schließlich trägt das Beispiel einer Gemeinschaft von Korbflechtern in Istanbul, das der Leipziger Ethnologe Dr. Udo Mischek zum Symposium vorstellt - das saisonale Gewerbe führt die Gruppe winters zum Schneiden der Weiden ins türkische Hinterland und sommers zum Verkauf der Körbe in die 15-Millonen-Metropole - Khazanovs These in die Gegenwart der Dienstleistungsnomaden.
    Doch die neuen Formen, die der Nomadismus in jüngster Vergangenheit ausgebildet hat, betreffen nicht allein die Dienstleistungsnomaden. Obwohl schon vor 20, 30 Jahren tot gesagt, hat sich der Pastoralismus (Hirtennomadismus) in vielen Regionen der Erde ebenfalls als anpassungs- und lebensfähig erwiesen. Beide Felder als Nomadismus im weiteren Sinne zu untersuchen, ist einer der selbst gestellten Aufgaben des Sonderforschungsbereiches. Das Paradigma "Nomadismus ist Teil eines größerer Systems" zeigt bei genauerem Hinsehen viele Facetten.

    Daniela Weber

    Weitere Informationen:
    Prof. Bernhard Streck
    Tel.: (0341) 97 37221 Fax: (0341) 97 37229
    E-Mail: streck@rz.uni-leipzig.de
    Dr. Wolfgang Holzwarth
    E-Mail: holzwarth@orientphil.uni-halle.de
    Dr. Stefan R. Hauser
    E-Mail: hauser@orientarch.uni-halle.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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