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20.04.2020 12:55

"Die Lebenserwartung der Patienten ist ein legitimes Kriterium für die ärztliche Entscheidung"

Susann Huster Stabsstelle Universitätskommunikation/Medienredaktion
Universität Leipzig

    Die Corona-Krise stellt Krankenhäuser vor große Herausforderungen. In einigen Ländern, zum Beispiel Italien, mussten Ärzte bereits Triage-Entscheidungen treffen, um Menschenleben zu retten. Was wäre, wenn Ärzte auch hierzulande eine Patienten-Auswahl vornehmen müssten, etwa weil Beatmungsgeräte nicht reichen? Wie die Rechtslage auf diesem Gebiet in Deutschland aussieht, erklärt Juristin Prof. Dr. Elisa Hoven von der Universität Leipzig.

    Frau Prof. Hoven, wie ist die Rechtslage in Deutschland zu Triage-Entscheidugen?

    Wenn ein Arzt tatsächlich nicht alle Patienten behandeln kann, steht er ethisch vor einer höchst schwierigen Situation: Er entscheidet letztlich darüber, wer leben darf und wer sterben muss. Das Recht gibt dem Arzt hier einen weiten Spielraum. Er befindet sich in einer sogenannten „Pflichtenkollision“, da er seine Behandlungspflicht nur gegenüber dem einen, nicht aber gegenüber dem anderen Patienten erfüllen kann. Da die Rechtsordnung von ihm nichts Unmögliches verlangen kann, macht er sich nicht strafbar – egal, für welchen Patienten er sich entscheidet. Und dabei spielt es auch keine Rolle, aus welchen Gründen er das tut.

    Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin, Leo Latsch, sagt, die Auswahl nach Alter sei nach deutschem Gesetz eine Tötung durch Unterlassung, ein Bruch mit den Tabus der Menschlichkeit. Was sagen Sie als Juristin dazu?

    Das ist so nicht richtig. Das Strafrecht urteilt nicht über die Entscheidungsgründe des Arztes. Es schaut ganz nüchtern darauf, ob sich der Arzt in einer Lage befunden hat, in der er nur einer von mehreren Behandlungspflichten nachkommen konnte. Im Übrigen ist die Lebenserwartung der Patienten meiner Ansicht nach ein legitimes Kriterium für die ärztliche Entscheidung. Da das menschliche Leben endlich ist, hat es zwingend eine quantitative Komponente. Mit Blick auf das eigene Leben würde wohl niemand behaupten, dass die Aussicht auf einige Monate und auf viele Jahre weiterer Lebenszeit gleichwertig sind. Die Unterscheidung nach der verbleibenden Lebenserwartung stellt auch die grundlegende Gleichheit von Menschen nicht in Abrede. Jeder Mensch hat denselben Wert – die Dauer seines Lebens hingegen nicht. Die Frage lautet also nicht: „Ist ein 90-Jähriger mehr oder weniger ‚wert‘ als ein 5-Jähriger?“, sondern: „Ist eine zu erhaltende Lebensdauer von 5 Jahren mehr oder weniger wert als eine Lebensdauer von 90 Jahren?“. Die Berücksichtigung der Lebenszeit richtet sich nicht gegen eine Gruppe von Menschen und stellt daher auch keine Abwertung Personen dar. Die verbleibende Lebensdauer ist kein Merkmal einer bestimmten Gruppe, sondern ein dynamischer Faktor im Alterungsprozess eines jeden Menschen.

    Sollte es in Deutschland nach der Corona-Krise zu Strafanzeigen von Angehörigen älterer Menschen kommen, die nach einer solchen Triage-Entscheidung von Ärzten an einer Corona-Infektion gestorben sind, welche Erfolgsaussichten hätten diese?

    Wie gesagt kann sich ein Arzt nicht strafbar machen, wenn er einen Patienten deshalb nicht behandelt, weil nicht genügend Ressourcen zur Verfügung standen. Strafrechtlich schwierig ist allein die Situation, in der sich ein Arzt dafür entscheidet, eine bereits begonnene Behandlung aktiv abzubrechen – wenn er also etwa einen Patienten mit schlechten Behandlungsaussichten vom Beatmungsgerät nimmt, um es einem anderen, mit besseren Chancen zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Ansicht, dass der Arzt auch in diesem Fall nicht zu bestrafen ist. Denn letztlich ist der Arzt allen Patienten zur Behandlung verpflichtet – er ist den Patienten, die bereits an den Geräten angeschlossen sind, nicht mehr oder weniger verantwortlich als dem Patienten, der später eingeliefert wird. Der Arzt steht damit vor genau derselben ethischen Konfliktsituation: Wer nicht ans Beatmungsgerät kann, wird sterben. Es kann dann nicht auf Zufälligkeiten ankommen, also etwa darauf, ob ein Patient kurze Zeit vorher eingeliefert und schon an ein Beatmungsgerät angeschlossen wurde. Auch der Ethikrat, der einen solchen Abbruch für unzulässig hält, möchte den Arzt im Ergebnis nicht bestraft sehen. Und das mit Recht: Es kann nicht das Ziel des Strafrechts sein, Ärzte vor Gericht zu stellen, die in einer ethischen Ausnahmesituation nach ihrem Gewissen entschieden haben.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Elisa Hoven
    Juristenfakultät der Universität Leipzig
    Telefon: +49 341 97-35291
    E-Mail: elisa.hoven@uni-leipzig.de


    Bilder

    Prof. Dr. Elisa Hoven
    Prof. Dr. Elisa Hoven
    Foto: Swen Reichhold
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Gesellschaft, Medizin, Recht
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Personalia
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Elisa Hoven


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