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21.04.2004 18:17

Die Gesamtliebe und die Einzelliebe

Dr. Ralf Breyer Public Relations und Kommunikation
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main)

    Poetikgastdozentin Angela Krauß führt an Orte verborgener Sehnsüchte

    FRANKFURT. Man kann Angela Krauß über die Jahre entstandene Prosa als Reise mit immer weiterem Radius lesen: In der Erzählung 'Milliarden neuer Sterne' von 1999 ist New
    York der Schauplatz. Jahrzehntelang hat die Ich-Erzählerin sich von New York Vorstellungen gemacht, ohne es zu vermissen. Plötzlich aber, in den letzten Wochen unseres Milleniums, wie über Nacht, will sie nichts dringender als das: nach New York. Und mit einem Schlag ändert sich alles, als an die Stelle der Vorstellungen die Wirklichkeit tritt, nicht als Erfüllung verborgener Sehnsüchte oder Modell für Zukünftiges, sondern als absolutes Jetzt. Vollkommen geistesgegenwärtig, in hellwacher Aufgeregtheit, lässt sie sich auf das Jetzt ein. Angela Krauß lässt den Leser die hellwache Aufgeregtheit ihrer Protagonistin fast körperlich miterleben, ihre Lust machende poetische Beschwingtheit. So ist New York noch nicht erzählt worden.

    Die Erzählung von New York stand natürlich nicht am Anfang, kann sie gar nicht. Begonnen hat für die Schriftstellerin Angela Krauß schließlich alles in einem Land mit Ausreiseverbot - und mit dem Schreiben über dieses Land. Im Jahr 1984 debütierte sie mit der Erzählung 'Das Vergnügen'. Sie dokumentierte darin einen offiziellen Jubiläumstag der DDR, erlebt von den Menschen, die in einer Brikettfabrik arbeiten: beim morgendli-chen Schichtbeginn, hinter dem Direktionsschreibtisch, beim feierabendlichen Tanzvergnügen. Bereits hier fand sie ihr Publikum.

    Im Jahr 1988 dann folgte die mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnete Erzählung 'Der Dienst' und damit noch mehr Öffentlichkeit. Schritt für Schritt verengt sich auf wenigen Sätzen die Optik von der Geomorphologie des Erzgebirges zu seiner Beschreibung als Industrielandschaft, von hier aus zur Nachschrift einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung; gleitend durchstößt der Blick die Oberfläche, das Deckgebirge, bis er mit den Figuren der erzählenden Tochter und des Vaters sein Zentrum erreicht.

    Die Genauigkeit der Wahrnehmung findet bei Angela Krauß ein ästhetisches Äquivalent in der Präzision des Ausdrucks, in der Sorgfalt der Formulierung, mit der den Dingen zur Sprache verholfen wird. Unermüdlich setzt die Schriftstellerin ihre filigranen Wort-Kunstwerke dem präparierten Geschwätz der Medien entgegen, sucht sie die abgenutzte Sprache wieder zum Klingen zu bringen.
    Ihre Erzählungen akzentuieren deutsche Geschichte poetisch und eindringlich. Der Roman 'Die Überfliegerin' spielt nach der Zeitenwende des Jahres 1989. Eine junge Frau, die in Leipzig in einer hoch gelegenen Altbauwohnung mit Blick auf den größten Kopfbahnhof Europas wohnt, beginnt in einer hochsommerlichen Nacht, die Tapeten vergangener Generationen von den Wänden zu reißen. In drei Textteilen, die den Handlungsräumen dieser Erzählung entsprechen, versucht die Ich-Erzählerin fünf Jahre nach der Wende, diese Zeit aufzuarbeiten. "Alle um mich herum handeln längst", bemerkt sie. Und sie versucht es auch: Nachdem sie die Tapeten abgerissen hat, fliegt sie in die USA, wo sie nicht Fuß fasst, und von dort weiter nach Moskau, wo sie in den neuen chaotischen Verhältnissen keinen Platz findet.

    In Angela Krauߎ zuletzt erschienener Erzählung 'Weggeküsst' ist die Grundkonstellation schließlich die einer totalen Ortlosigkeit: Eine Frau erwacht morgens in ihrer gewohnten Umgebung, doch alles um sie herum hat sich grundlegend verändert, und es fällt ihr schwer, sich zu orientieren.

    Für ihre erzählerische Leistung erhielt die 1950 in Chemnitz geborene, heute in Leipzig lebende Autorin zahlreiche Preise, neben dem erwähnten Ingeborg-Bachmann Preis (1988) auch den Berliner Literaturpreis, die Bobrowski-Medaille 1996, das Stipendium der Villa Massimo und zuletzt 2001 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung.

    In ihrer ersten Vorlesung - 'Die Pultscholle' benannt - soll es um Landschaft und Geschichte als Prägeformen des Erzählens gehen; beim zweiten Termin 'Die Gesamtliebe und die Einzelliebe' behandelt sie das Thema 'Liebe als Provokation'. Über ihre 'Baugründe des Poetischen', die "nicht in der Sphäre der Gedanken" liegen, geht es im Anschluss. In der vierten Vorlesung, benannt 'Die Vorfreude', wird die "poetische Existenz" als "kühnste Daseinsform" beschrieben. Diese Vorlesung bereitet auch vor auf den fünften und letzten Vortragstermin, bei dem ein neues Stück Prosa mit den Überlegungen der vier vorangegangenen Vorlesungen in Korrespondenz gesetzt wird.

    Der S. Fischer Verlag richtete die Gastdozentur für Poetik 1959/60 ein und übernahm für mehrere Semester die finanzielle Unterstützung. Seit 1963 wird die Dozentur vom Suhr-kamp Verlag und der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main e.V. getragen.

    Kontakt: Prof. Volker Bohn / Silke Scheuermann, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II; Campus Westend; Tel.: 798-32746, -32743, -32855

    Die Gesamtliebe und
    die Einzelliebe
    Vorlesung:

    Wann?
    Jeweils dienstags 18 Uhr c.t.
    27. April / 4., 11., 18. und 25. Mai

    Wo?
    Hörsaal VI, Hörsaalgebäude, Gräfstr./ Mertonstr, Campus Bockenheim

    zusätzlich:
    * Autorengegespräch
    Jeweils nach den Vorlesungen: 20 Uhr: Literaturhaus
    Frankfurt, Bockenheimer Landstraße 102, Seminarraum,
    erster Stock

    * Lesung
    Montag, den 17. Mai, 20 Uhr, Literaturhaus Frankfurt,
    Bockenheimer Landstraße 102

    * Ausstellung
    Leben und Werk von Angela Krauß
    Eröffnung am 27. April, 17 Uhr; Stadt- und
    Universitätsbibliothek, Bockenheimer Landstr. 134


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Sprache / Literatur
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Studium und Lehre
    Deutsch


     

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