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07.03.2023 10:27

Expertin Viernickel: „Das Wohlbefinden von Kindern hat in unserer Gesellschaft nicht die höchste Priorität“

Susann Huster Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Ausgrenzung und Mobbing in Kita, Schule oder den sozialen Medien, Spannungen oder gar Gewalt in der Familie, überfordertes pädagogisches Personal – Kinder werden in unserer modernen Gesellschaft mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Diese stellen eine Gefahr für ihr gesundes Aufwachsen dar. Wie der Gefahr begegnet werden kann, diskutieren Expert:innen verschiedener Fachbereiche neben anderen Themen bei der Jahrestagung der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 9. bis 11. März an der Universität Leipzig.

    Prof. Dr. Susanne Viernickel, Expertin der Universität Leipzig für den Bereich Pädagogik der frühen Kindheit, gehört zu den Organisator:innen der Tagung. Im Interview berichtet sie über die noch immer spürbaren Auswirkungen der Pandemie, den Fachkräftemangel in den Kitas und den großen Einfluss der Elternhäuser auf die kindliche Entwicklung.


    Frau Prof. Viernickel, was bedroht ein gesundes Aufwachsen unserer Kinder derzeit am meisten?

    Das ist eine Frage, die man je nach Fokus unterschiedlich beantworten kann. Da ist zum einen der Klimawandel, eine sehr ernste und umfassende Bedrohung, von der wir noch nicht wissen, was sie für die heutigen Kinder bedeutet. Spürbar ist aber auch der Anstieg psychischer Belastungen bei Kindern durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen. Da gibt es Verunsicherung, Überforderung und Spannungen in den Familien sowie eine gestiegene Zahl von Kindeswohlgefährdungen. Kitas mussten schließen oder boten monatelang nur Notbetreuung an. Dadurch fehlen vielen Kindern die Bildungsangebote der Einrichtungen. Mit der Pandemie wurde die Schere zwischen Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und Kindern aus nicht benachteiligten Familien noch größer. Wir sorgen uns, weil dadurch auch der Anteil der Kinder steigt, die schon beim Eintritt in die Grundschule abgehängt werden. Und es gibt auch noch das Problem mit dem Kita-System selbst. Die Beschäftigten dort sind am Limit – das System selber auch wegen des Fachkräftemangels und der Unterfinanzierung. Zudem ist das Kita-Personal teilweise schlecht qualifiziert. Die Fachkräftekataloge werden immer weiter aufgeweicht. Es werden beispielsweise so genannte Alltagshelfer:innen in den Kitas angestellt, die gar nicht die entsprechende Ausbildung haben.

    Hat sich die Bedrohungslage für die Kinder in den vergangenen Jahren gewandelt? Wenn ja, inwiefern?

    Die Lage hat sich zugespitzt. Wir wissen, dass in der frühen Kindheit die Weichen für eine gelungene Bildungsbiografie gestellt werden. Aber die Ressourcen in den Familien sind sehr unterschiedlich. Zum Ausgleich und für Bildungsgerechtigkeit brauchen wir gute Kitas und Unterstützungsangebote für die Familien. Allerdings tut sich da angesichts der krisenhaften Entwicklung der vergangenen Jahre mit den Einflüssen verstärkter Flucht- und Migrationsbewegungen und verfestigter Kinderarmut noch zu wenig. Das Wohlbefinden von Kindern hat in unserer Gesellschaft und auf der politischen Agenda nicht die höchste Priorität. Ich denke da nur an die Kita- und Schulschließungen während der Pandemie sowie die Diskussion um die Kindergrundsicherung in der jüngsten Vergangenheit.

    Wo liegen konkret die Gefahren für Kinder im Elternhaus und in der Kita oder Schule?

    Das Elternhaus hat im Positiven und im Negativen den größten Einfluss auf die kindliche Entwicklung, mehr als die Einflüsse außerhalb der Familie. Wenn es in den Familien schlecht läuft, die Kinder vernachlässigt oder gar häuslicher Gewalt ausgesetzt werden, wirkt sich das am schlimmsten aus. In den Institutionen ist diese Gefahr insgesamt geringer. Da ist die formale Kontrolle viel stärker. Und da ist auch die emotionale Verstrickung weniger stark als in der Familie. Aber auch in den Institutionen gibt es Fehlverhalten von Pädagog:innen, wenn Kinder beispielsweise zum Essen gezwungen werden. Das wurde lange Zeit tabuisiert. Seit einigen Jahren gibt es darüber aber mehr Diskussionen und Maßnahmen dagegen. Wir Forschende wollen, dass dieses Thema an die Öffentlichkeit kommt, wollen dafür sensibilisieren und die Träger der Kitas dabei unterstützen, Schutzkonzepte einzuführen. Ausgrenzung und Mobbing erfahren Kinder weniger zu Hause, sondern eher in der Kita oder in der Schule.

    Sollten Eltern versuchen, möglichst viele unangenehme äußere Einflüsse von ihren Kindern fernzuhalten oder ist eine Konfrontation der Jüngsten damit sogar förderlich für deren Entwicklung?

    Der Slogan „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ trifft nicht auf das frühe Kindesalter zu. Es wäre fahrlässig zu denken, die Kinder müssen schlimme Erfahrungen machen, um gestärkt zu werden für die Zukunft. Besonders junge Kinder kommen damit nicht zurecht. Allerdings können Eltern ihre Kinder im Alltag nicht vor allen negativen Emotionen schützen und ihnen alle Steine aus dem Weg räumen. Sie sollten ihren Kindern etwas zutrauen, sie eigenständig handeln lassen und ihnen nicht alles abnehmen. Sonst lernt das Kind: Ich schaffe es nicht allein. Besser ist es, wenn Eltern ihr Kind ermutigen, vielleicht einen kleinen Hinweis geben, dass es die Aufgabe allein schafft. Dann überwindet es die Frustration, versucht es noch einmal und hat ein Erfolgserlebnis. Anders ist das beispielsweise bei Kriegsbildern im Fernsehen. Die sollten Kinder nicht ungefiltert ansehen – auch nicht in Anwesenheit der Eltern, denn die können die Bilder nicht steuern. Es gibt kindgerechte Materialien über Flucht, Krieg oder Trauer, die sich besser eignen, um mit Kindern über diese Themen ins Gespräch zu kommen, die nun mal leider zur Lebensrealität gehören.

    Welchen Einfluss hat das Verhältnis von Kindern untereinander auf ein gesundes Aufwachsen?

    Andere Kinder haben einen enormen Einfluss auf das gesunde Aufwachsen von Kindern. Meist sorgen sie für eine positive Entwicklung. Schon ab einem Jahr zeigen Kinder Interesse aneinander, tauschen Spielzeug aus. Später sind es Rollen- und Regelspiele, die für sprachlich-kognitive Prozesse wichtig sind, aber auch für die soziale und emotionale Bildung. Mit zunehmendem Alter werden Freundschaften immer wichtiger, dieser besondere Mensch, der auch das Gegengewicht zum Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern ist. Kinder sind füreinander eine ganz große Entwicklungsressource. Das wird häufig von den Erzieher:innen in den Kitas unterschätzt. Natürlich gibt es auch Konflikte zwischen den Kindern. Sie lernen dabei, wie man sich behauptet oder dass man mal zurückstecken muss. So entwickeln sie soziale Kompetenz. Ausgrenzung und Aggression kommen in der frühen Kindheit eher selten vor. Dann sind Erwachsene wie die Eltern oder das Kita-Personal gefragt, die das im Blick haben und regulieren sollten.

    Hinweis:
    Prof. Dr. Susanne Viernickel ist eine von mehr als 200 Expert:innen der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie im Expertendienst der Hochschule zurückgreifen können.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Susanne Viernickel
    Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig
    Telefon: +49 341 97-31891
    E-Mail: susanne.viernickel@uni-leipzig.de


    Weitere Informationen:

    https://www.erzwiss.uni-leipzig.de/institut-fuer-paedagogik-und-didaktik-im-elem... Informationen zur Jahrestagung des Kommission Pädagogik der frühen Kindheit
    https://expertendienst.uni-leipzig.de Expert:innendienst der Universität Leipzig


    Bilder

    Prof. Dr. Susanne Viernickel
    Prof. Dr. Susanne Viernickel
    Foto: Swen Reichhold
    Universität Leipzig


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Susanne Viernickel


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