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15.06.2004 13:39

"Durch den Tränensee geschwommen" Frauen und Männer verarbeiten sexuellen Missbrauch unterschiedlich

Hedwig Görgen Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Es ist nach wie vor ein tabuisiertes Thema: der sexuelle Missbrauch von Kindern durch die eigenen Eltern. Doch die Opfer leiden oft ihr Leben lang an den Folgen. Die promovierte Psychologin Silke Birgitte Gahleitner von der Freien Universität Berlin hat untersucht, ob Frauen und Männer die traumatischen Erfahrungen unterschiedlich verarbeiten. Sie führte Interviews mit Opfern und wendete - erstmalig im deutschsprachigen Raum - Aspekte der Genderforschung auf Verarbeitungsmodelle sexueller Traumata an. Dabei kommt sie zu interessanten Ergebnissen: Zur Aufarbeitung und Minimierung der Folgen verhalten sich Frauen und Männer oft "geschlechtsuntypisch". Frauen streben nach Stärke und Kontrolle über ihre Emotionen, Männer versuchen, zu ihren Gefühlen vorzudringen und sie auszudrücken. Diese geschlechtsspezifischen Aspekte der Traumaverarbeitung haben bisher kaum Einfluss auf die Psychotherapie und Beratung gefunden.

    "Ich hab oft an der Decke geklebt währenddessen." So beschreibt Marianne P. ihre Wahrnehmung während des Missbrauchs durch ihren Vater. Von frühester Kindheit an erlitt die heute 33-jährige Sozialarbeiterin die Übergriffe. Sie ist eine von zwölf Frauen, die im Rahmen der Studie interviewt wurden. Wie viele Opfer sexueller Gewalt zog sich Marianne P. zurück, konnte nicht über das Erlittene sprechen und hatte es als Kind schwer, Freundschaften zu schließen. In der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter fügte sie sich selbst Schmerzen zu, litt an Schlaflosigkeit und anderen psychosomatischen Krankheiten. In ihren Beziehungen war sie zu sexuellen Kontakten kaum fähig, ertrug es nicht, wenn ihr Freund sie sexuell berührte und erlebte erneut körperliche Gewalt. In der Fachwelt nennt man so etwas eine "Opferkarriere". Erst nach einem Selbstmordversuch begann sie mit der Verarbeitung und der aktiven Auseinandersetzung in verschiedenen Therapien.

    Der Lebenslauf von Marianne P. ist typisch für weibliche Opfer sexuellen Missbrauchs. Oft zeigt sich während der Pubertät ein autoaggressives Verhalten - Magersucht oder das so genannte "Ritzen", das absichtliche Schneiden in die eigene Haut, sind Beispiele dafür. Auch psychosomatische Erkrankungen sind häufig. Gesellschaftlich tief verankerte Bilder und Vorurteile reduzieren Frauen oft auf ihre Opferrolle, wodurch "Opferkarrieren" begünstigt werden können.

    Bei Männern ist das meist anders. Zwar verhalten sich kleine Jungen und Mädchen direkt nach dem Missbrauch ähnlich - sie verdrängen das Geschehene. Doch im Jugendalter neigen Männer eher zu aggressiven Phantasien und Drogenmissbrauch, viele werden zu Alkoholikern. In Extremfällen identifizieren sie sich mit dem Täter und suchen sich eigene Opfer, obwohl sie in sich auch ganz andere und der Täterrolle widersprechende Gefühle tragen. Diese "Täterkarrieren" werden ebenfalls durch das gesellschaftliche Umfeld bestärkt, das Männer sehr selten in der Opferrolle wahrnimmt. Ein geradezu klassisches Tabu liegt vor, wenn der Sohn von der eigenen Mutter missbraucht wurde. Viele Opfer beschreiben, dass sie auf Ablehnung stoßen, wenn sie die durch Frauen erlittene Gewalt beschreiben. Ihr Leiden wird selten in der erlebten Intensität anerkannt - in der Wissenschaft wird das "Trivialisierung" genannt.

    Nicht alle missbrauchten Jungen werden zu Tätern. Immer mehr der betroffenen Männer suchen Jahrzehnte nach dem Missbrauch Selbsthilfe oder Beratung auf, obwohl das Angebot für Männer sehr dürftig ausfällt. "Der Weg ans Licht führt durch den Keller", sagt Peter K., einer der interviewten Männer, und meint damit die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen. Erst im Rahmen einer Therapie gelang es ihm, über das Erlittene zu sprechen und mit der Verarbeitung zu beginnen. Das eher "geschlechtsuntypische" Reden über Gefühle, die intensive Wahrnehmung der eigenen Emotionen halfen Peter K. dabei. Vorher durchlebte auch er Gewaltfantasien und betäubte sich mit Alkohol.

    Frauen hingegen kann es bei der Traumabewältigung helfen, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Die "geschlechtsuntypische Suche nach Instrumentalität und Stärke" ist möglicherweise einer der Schlüssel zum Einstieg in eine erfolgreiche Behandlung.

    Die verschiedenen Folgen sexuellen Missbrauchs bei Männern und Frauen sind in der Psychologie und der Genderforschung schon länger ein Thema. Neu ist der Ansatz, bei der Verarbeitung "geschlechtsuntypisch" auf die Probleme einzugehen. Frauen müssen häufig "durch den Tränensee geschwommen" sein, wie es Marianne P. beschreibt, und ihre Gefühle dann stärker kontrollieren lernen. Männer hingegen müssen oft erst hineingeschubst werden - in den Tränensee.

    Von Oliver Trenkamp

    Studie:
    Silke Birgitta Gahleitner, "Sexuelle Gewalterfahrung und ihre Bewältigung bei Frauen und Männern. Eine explorative Untersuchung aus salutogenetischer Perspektive", Berlin 2004

    Weitere Informationen:
    Dr. Silke Birgitta Gahleitner, Tel.: 030 / 82 70 99 21, E-Mail: silkegahleitner@t-online.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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