Kolumbien ist das Land mit der dritthöchsten Artenvielfalt auf unserem Planeten, wenn es um die Diversität von Pflanzen und Wirbeltieren geht. Nun hat ein Forschungsteam des Botanischen Gartens Berlin gemeinsam mit seinen kolumbianischen Partnern belegt, dass diese Lebensfülle auch für die Organismengruppe der Flechten gilt: Nicht weniger als 666 Arten fanden sie auf Expeditionen im kolumbianischen Amazonasgebiet, darunter sind 28 neu für die Wissenschaft.
Über zehn Jahre hinweg untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Forscher des Botanischen Gartens Berlin (BO Berlin), des Instituto Amazónico de Investigaciones Científicas (Amazonasinstitut für wissenschaftliche Forschung SINCHI) und der Universidad Distrital Francisco José de Caldas (UDFJC) die Flechtenvielfalt des kolumbianischen Amazoniens. Das beeindruckende Zahlenergebnis überraschte auch die beteiligten Expert*innen: „In Sachen Flechten gehört das Amazonasgebiet damit wohl zu den artenreichsten Regionen unserer Erde“, so Dr. Robert Lücking, seit März 2023 Leiter der Forschungsabteilung am Botanischen Garten Berlin. Er ist einer der Autoren der gerade in der US-amerikanischen Fachzeitschrift The Bryologist veröffentlichten Abschluss-Studie des Projektes. „Bisher beschränken sich Analysen der Artenvielfalt fast immer auf Gefäßpflanzen und Wirbeltiere. Die eigentlich artenreichsten Organismengruppen der Insekten und Pilze, und damit auch die der Flechten, bleiben da-bei unbeachtet. Unsere Forschungsergebnisse erweitern nun die Perspektive und unterstreichen, wie schützenswert dieser Lebensraum ist", erläutert Lücking.
Globale Brennpunkte in Sachen Artenerhalt
Derzeit gibt es weltweit 36 so genannte Biodiversitäts-Hotspots. Maßgeblich für diese Bezeichnung ist die Anzahl der endemischen Pflanzenarten sowie die akute Bedrohungslage. Mit nur 10 % der Erdoberfläche decken die Länder, in denen die Biodiversitäts-Hotspots liegen, rund 70 % des weltweiten Artenreichtums ab. Kolumbien ist mit seinen westlichen Landesteilen und den zentralen Anden an zwei Hotspots beteiligt: dem „Tumbes-Chocó-Magdalena“, welcher von Panama bis nach Peru reicht und die an der Pazifikküste liegenden Bereiche ein-schließt, und dem „Tropische Anden“-Hotspot von Venezuela bis Bolivien.
Wie grundlegend die neuen Forschungsergebnisse das Bild für Kolumbien bereichern, erläutert Dr. Bibiana Moncada, Professorin an der UDFJC, Kustodin des dortigen Flechten- und Moosherbars und zurzeit Gastwissenschaftlerin am Botanischen Garten Berlin: "In Kolumbien beschränkte sich die Biodiversitätsforschung weitgehend auf die besser zugänglichen Küsten- und Andenregionen. Zwar gilt das Amazonasgebiet derzeit noch nicht als Biodiversitäts-Hotspot, allerdings fehlen ja auch noch umfassende Daten, und auch die Bedrohungslage nimmt zu“. Wilson Álvaro-Alba, Wissenschaftler des SINCHI-Instituts und Mitautor der Studie, ergänzt: “Es sind noch zahlreiche Gebiete im Amazonasgebiet zu erforschen. Die bisherige Arbeit ist ein Ergebnis der Strategie des SINCHI, gezielt auch Flechten und nicht nur vaskuläre Pflanzen in der Region zu sammeln und dann Expertinnen und Experten einzuladen, um diese Sammlungen zu bearbeiten“. Die aktuellen Zahlen könnten bei zukünftigen Analysen in der Tat noch steigen: „Über 1.000 Flechtenarten allein für das kolumbianische Amazonasgebiet sind realistisch", konstatiert Robert Lücking, „im Vergleich sind für das als Biodiversitäts-Hotspot geltende kolumbianische Chocó-Gebiet bisher etwa nur 400 Arten bekannt ".
Expertenforum heute in Berlin: Eine nachhaltige Zukunft für das kolumbianische Amazonasgebiet
Die seit 2022 amtierende Regierung Kolumbiens unter Gustavo Petro hat sich den Schutz des kolumbianischen Amazonas-Regenwaldes sowie eine nachhaltige Ressourcennutzung zum Ziel gesetzt. Am 13. September findet im Rahmen der „Amazonaswoche“ der Botschaft von Kolumbien in der Hauptstadt ein Expertenforum statt, das Wissenschaft und Politik zusammenbringt. Unter dem Titel "Kolumbien, ein Land im Amazonasgebiet: Bioökonomie im Zeichen von Biodiversität, Wissen, Nachhaltigkeit und Frieden" diskutieren unter anderem die Generaldirektorin des Amazonasinstituts SINCHI, Luz Marina Mantilla Cárdenas, die Generalkoordinatorin der Koordinierungsbehörde der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COI-CA), Fany Kuiru Castro, Prof. Dr. Johannes Vogel, Generaldirektor des Museums für Naturkunde und Prof. Dr. Thomas Borsch, Direktor des Botanischen Gartens Berlin. Auch die Ergebnisse der Flechtenstudie werden vorgestellt.
Der Botanische Garten Berlin ist BO Berlin – Internationales Wissenszentrum der Botanik. Mit nahezu 20.000 Pflanzenarten ist der Botanische Garten Berlin der größte in Deutschland und zählt zu den bedeutendsten weltweit. Auf 43 Hektar Freigelände und in fünfzehn Gewächshäusern erhalten Besucherinnen und Besucher faszinierende Ein-blicke in die Welt der Botanik. Als Knotenpunkt der internationalen Biodiversitätsforschung und Ort der Wissensgenerierung und -vermittlung beschäftigt der Botanische Garten mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit dem Botanischen Museum verfügt er über Deutschlands einzigartige museale Einrichtung, die sich der Vielfalt der Pflanzenwelt, ihrer Bedeutung und der Darstellung ihrer Kultur- und Naturgeschichte widmet. Seit 1995 gehört die Einrichtung zur Freien Universität Berlin.
Hintergrund
Der Botanische Garten Berlin ist mit einer Vielzahl an internationalen Forschungsprojekten in den Biodiversitäts-Hotspots der Welt aktiv. Für das Amazonas-Projekt in Kolumbien folgten die Wissenschaftler*innen der Einladung des SINCHI, als Expert*innen die Flechtensammlung des dortigen Herbars zu überarbeiten. Diese geht auf mehr als einhundert Expeditionen zwischen 1987 und 2023 zurück, die bisher umfangreichsten aus dem Jahr 1988 durch Harrie Sipman, ehemals Kustos der Flechtensammlung am Botanischen Garten Berlin. In den seit 2013 stattgefundenen Revisionsarbeiten wurden insgesamt über 1.800 Aufsammlungen des SINCHI für die Auswertung herangezogen. Mit der im Juni 2023 vorgestellten Studie konnten die Forscherinnen und Wissenschaftler die Zahl der bisher aus der kolumbianischen Amazonasregion bekannten Flechtenarten mehr als verdoppeln. Über 150 Arten waren zuvor gar nicht aus Kolumbien bekannt.
Biodiversitäts-Hotspots
Das Konzept der Biodiversity-Hotspots wurde Ende der 1980er Jahre entwickelt: Die Biologen Russell Mittermeier und Norman Myers wollten damit definieren, welche Weltregionen für den globalen Artenschutz die größte Bedeutung besitzen. Bis heute werden als Basis für die Identifizierung einer Region als Hotspot ausschließlich Pflanzen herangezogen, da hierfür ausreichend Daten vorliegen und pflanzliche Vegetation in der Regel die Grundlage für die Diversität anderer Organismen darstellt. Seit 1996 gelten die von der Non-Profit-Organisation Conservation International entwickelten Kriterien: Hotspots müssen mindestens 1500 endemische Arten von Gefäßpflanzen aufweisen und 70 Prozent ihres ursprünglichen Habitats vor Ort bereits verloren haben. Ursprünglich deckten die 36 bisher ernannten globalen Hotspot-Regionen 15,7 Prozent der Landoberfläche der Erde ab, heute sind es nur noch 2,3 Prozent.
Flechten
Flechten sind Symbiosen von Pilzen mit Algen oder Cyanobakterien. Im Gegensatz zu anderen Pilzen sind Flechten in hohem Maße austrocknungstolerant und überleben dauerhaft auf Oberflächen. Flechten sind allerdings sehr empfindlich gegenüber Umweltveränderungen und Luftverschmutzung, weshalb sie vielfach als biologische Zeiger angewandt werden. Weltweit sind bisher etwa 20.000 Arten bekannt. Der Botanische Garten Berlin befasst sich seit der Schaffenszeit Carl Ludwig Willdenows (ab 1801 Direktor) mit der Flechtenforschung und hat sich seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Zentrum der tropischen Flechtenforschung entwickelt. Seit den achtziger Jahren besteht eine enge Zusammenarbeit mit Kolumbien.
Pressekontakt:
Franziska Krug, Presse & Öffentlichkeitsarbeit
Botanischer Garten Berlin
BO Berlin – Internationales Wissenszentrum der Botanik
Freie Universität Berlin
Tel. 030 / 838 – 72375
Mail: f.krug@bo.berlin
Dr. Robert Lücking, Leiter der Abteilung „Evolution und Biodiversität“
Botanischer Garten Berlin
BO Berlin – Internationales Wissenszentrum der Botanik
Freie Universität Berlin
Tel. 030 / 838 – 56 350
Mail: r.luecking@bo.berlin
Lichens from the Colombian Amazon: 666 Taxa Including 28 new Species and 157 New Country Records Document an Extraordinary Diversity
Autoren: Robert Lücking (BO Berlin), Bibiana Moncada (Universidad Distrital Francisco José de Cal-das), Wilson Álvaro-Alba, Norida Marín-Canchala, Sonia Sua Tunjano und Dairon Cárdenas-López (SINCHI)
https://doi.org/10.1639/0007-2745-126.2.242
https://www.bo.berlin/de/presse/pressefotos#FlechtenAmazonas Pressefotos (zum Download)
Die tropische Krustenflechte Stigmatochroma metaleptoides ist durch eine auffällige Farbänderung unt ...
Robert Lücking
© Robert Lücking, Botanischer Garten Berlin
Dr. habil. Robert Lücking bei der Arbeit im Herbar des Amazonasinstitut für wissenschaftliche Forsch ...
Robert Lücking
© Robert Lücking, Botanischer Garten Berlin
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
Die tropische Krustenflechte Stigmatochroma metaleptoides ist durch eine auffällige Farbänderung unt ...
Robert Lücking
© Robert Lücking, Botanischer Garten Berlin
Dr. habil. Robert Lücking bei der Arbeit im Herbar des Amazonasinstitut für wissenschaftliche Forsch ...
Robert Lücking
© Robert Lücking, Botanischer Garten Berlin
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