idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
26.09.2023 11:22

Forscher*innen: Regierungen können radikale soziale und ökologische Maßnahmen ohne Wachstum finanzieren

Christine Xuan Müller Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Forschungsteam der Freien Universität Berlin schlägt geldpolitisches Programm für Degrowth-Transformation vor

    Neuen Untersuchungen unter Leitung eines Forschers am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin zufolge hat das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (BIP) keinen Einfluss auf die Fähigkeit souveräner Staaten, Investitionen in eine radikale Dekarbonisierung und ehrgeizige sozialpolitische Maßnahmen wie universelle öffentliche Dienstleistungen und eine Arbeitsplatzgarantie zu finanzieren. Ihre Studie „How to Pay Saving the World: Modern Monetary Theory for a Degrowth Transition” ist gerade im Fachmagazin “Ecological Economics” erschienen: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0921800923002318

    „Um den Klimakollaps zu bremsen, müssen die Ausgaben der öffentlichen Hand massiv erhöht werden. Nur durch staatliche Investitionen kann ein rechtzeitiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen noch erreicht werden“, sagt Doktorand Christopher Olk vom Otto Suhr Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und Leiter der Studie „How to pay for saving the world: Modern Monetary Theory for a degrowth transition". Es herrsche die weitverbreitete Meinung, dass Regierungen ihre Ausgaben nur erhöhen können, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und damit die Steuerbasis wachsen. Andernfalls drohten angeblich eine Inflation oder eine zu hohe öffentliche Verschuldung. Das würde ein Problem bedeuten, da das BIP-Wachstum ökologischen Zielen zuwiderläuft.

    Daher fordert mittlerweile eine Mehrheit der Klimawissenschaftler*innen weltweit "Degrowth" - also den demokratisch geplanten Rückbau von gesellschaftlich weniger notwendigen und ökologisch besonders schädlichen Industrien - in reichen Ländern, um eine rechtzeitige Dekarbonisierung noch zu ermöglichen. Zentrale Degrowth-Maßnahmen sind unter anderem der Ausbau universeller öffentlicher Dienstleistungen und eine Arbeitsplatzgarantie in nachhaltigen Sektoren. Regierungen stehen also vor der Frage, wie die notwendigen ökologischen und sozialen Maßnahmen in einer Degrowth-Transformation finanziert werden können.

    Diese Frage will das Forschungsteam um Christopher Olk beantworten. Die Wissenschaftler*innen argumentieren, dass öffentliche Investitionen tatsächlich ohne BIP-Wachstum erhöht werden können - und zwar bei gleichzeitigem Rückbau destruktiver und weniger nützlicher Industrien sowie ohne Inflation.

    Der in der Fachzeitschrift „Ecological Economics“ veröffentlichte Artikel folgt der modernen Geldtheorie (MMT) und legt dar, warum Staaten mit monetärer Souveränität grundsätzlich keinen finanziellen Beschränkungen unterliegen. “Anders als von konservativen Ökonom*innen behauptet, werden die öffentlichen Ausgaben tatsächlich nicht durch die Steuereinnahmen beschränkt, sondern durch die Produktionskapazität der Volkswirtschaft”, erklärt Christopher Olk, Hauptautor des Artikels. Die Grenzen der öffentlichen Ausgaben sind demnach die sozialen und ökologischen Grenzen der Produktion. Für eine öffentlich finanzierte Dekarbonisierung müssen laut Olk einige Ressourcen, die bislang für gesellschaftlich weniger notwendige Produktion eingesetzt werden, durch gezielte Politikmaßnahmen in ressourceneffiziente öffentliche Versorgungssysteme verschoben werden.

    Zu diesem Zweck schlagen die Forscher*innen ein umfassendes Bündel geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen vor, um Inflation zu verhindern und wirtschaftliche Stabilität während eines Degrowth-Übergangs zu gewährleisten. Dazu gehören eine stärkere Regulierung der privaten Geldschöpfung durch Banken, eine progressive Besteuerung von Kapitaleinkommen sowie von Energie- und Ressourcenverbrauch, gezielte Preiskontrollen, robuste öffentliche Versorgungssysteme und die Einführung einer emanzipatorischen, demokratisch organisierten Arbeitsplatzgarantie in nachhaltigen Sektoren. Dieser ganzheitliche politische Rahmen birgt das Potenzial, eine breite demokratische Unterstützung für einen Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft zu gewinnen.

    "Angesichts einer eskalierenden Klimakrise schützen unsere Regierungen die Lebensgrundlagen der Bevölkerung nicht", so Olk. "Die Menschen können aber nur dann eine bessere Politik fordern, wenn sie wissen, dass die staatliche Sparpolitik nicht wirtschaftlichen Zwängen folgt, sondern eben eine politische Entscheidung ist".

    Zweifellos stehen den notwendigen öffentlichen Ausgaben existierende Schuldenregeln auf europäischer und nationaler Ebene im Wege. Die Forscher schlagen vor, sie angesichts der existenziellen Klimakrise, wie auch in der Corona-Krise, auszusetzen oder perspektivisch durch ein demokratisches Kontrollorgan zu ersetzen.

    Christopher Olk, Colleen Schneider (Wirtschaftsuniversität Wien) und Jason Hickel (Universität Barcelona und London School of Economics) zufolge erfordert Degrowth vor allem eine politisch gut organisierte soziale Basis. Bedenken hinsichtlich der finanziellen Machbarkeit, Sorge um mögliche Inflation und um die Auswirkungen auf den eigenen Lebensstandard führen oft zu Skepsis gegenüber einer radikalen sozialen und ökologischen Transformation. Die Autor*innen zeigen demgegenüber auf, wie ein solcher Übergang makroökonomisch machbar ist, und schlagen ein praktisches wirtschaftspolitisches Programm vor, mit dem ökologische und soziale Ziele gleichzeitig erreicht werden können.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Christopher Olk, Freie Universität Berlin, Otto Suhr Institut für Politikwissenschaft, Freigeist Forschungsgruppe Global monetary relations in the age of offshore finance”, Altensteinstraße 33, 14195 Berlin, E-Mail: christopher.olk@fu-berlin.de


    Originalpublikation:

    Olk, C., Schneider, C., Hickel, J. (2023): How to pay for saving the world: Modern Monetary Theory for a degrowth transition. Ecological Economics 214 , https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0921800923002318


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Politik, Umwelt / Ökologie, Wirtschaft
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).