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02.07.2004 13:33

Analyse statt Heiligsprechung der skandinavischen Schule

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    An der Universität Leipzig ist der deutschlandweit einzige Lehrstuhl angesiedelt, der im Fachgebiet der Vergleichenden Pädagogik den Fokus auf die - laut PISA - vorbildlichen skandinavischen Länder richtet. Jetzt legt Dr. Tobias Werler seine Studie ''Nation, Gemeinschaft, Bildung'' vor. Sein Resümee: Deutschland braucht nicht die Transformation des nordischen Modells; Not tut aber eine grundlegende Änderung sowohl der Struktur als auch des Inhalts von Bildung.

    Er hat zwei Jahre in Norwegen studiert, gewohnt, gelebt. Er hat die Sprache des Landes gelernt. Und eines Tages hat er sich gefragt: Warum hat Norwegen eine andere Schule als Deutschland? Es ist eine nahe liegende Frage für einen Studenten der Erziehungswissenschaften - auch ohne PISA. Als es Tobias Werler gen Norden zog, gab es noch keinen PISA-Schock der deutschen Bildungselite, die ''Heiligsprechung'' der skandinavischen Schule war noch nicht abzusehen.
    Und als schließlich im Dezember 2001 die Schulleistungsstudie der OECD über das bundesrepublikanische Schulsystem hereinbrach, kam es zwar der Politik in den Sinn, sich an das besser benotete nordische Schulwesen wie an einen Rettungsring zu klammern - ''aber uns hat keiner gefragt''. Dr. Tobias Werler schüttelt noch heute den Kopf über die Ignoranz gegenüber dem deutschlandweit einzigen Lehrstuhl, der sich der Vergleichenden Pädagogik mit besonderem Blick auf Skandinavien verpflichtet hat. Der Lehrstuhl ist an der Universität Leipzig angesiedelt und wird von Prof. Wolfgang Hörner und Dr. Tobias Werler getragen.
    Werler versteht die Verlockung, das nordische Modell als Allheilmittel gegen die deutschen Gebrechen zu verordnen. ''Selbst wenn man in Norwegen eine ganz normale Schule oder auch Universität besucht, es quellen einem die Augen über'', schildert er seine Einsicht. Statt das Bildungssystem zwischen 16 Bundesländern zu zerstückeln, konzentriert sich ein überschaubares, nationales Ministerium auf Leitlinien und Beratung, vor Ort entscheiden die regionalen und kommunalen Institutionen. Statt den Mangel an Personal und Geld in Klassen mit 30 Kindern oder Seminaren mit 100 Studenten zu verwalten, arbeiten Lehrer mit dem Schüler für das Erreichen der gemeinsam abgesteckten Ziele. Statt nach Leistung zu selektieren, richtet sich Bildung darauf, in die Schule und in die Gesellschaft zu integrieren. Im Ergebnis entscheidet das Können des Schülers über seinen künftigen Lebensweg und seine Position in der Gesellschaft - nicht der in der vierten Kasse ''gewählte'' Schultyp.
    Trotz des klaren gegensätzlichen Bildes aber warnt Tobias Werler: ''Das skandinavische Modell lässt sich nicht einfach auf Deutschland übertragen.'' In seinen Augen ist ein umfassender öffentlicher Diskurs nötig. ''Schule muss ein Thema im Wahlkampf sein.'' Damit meint er nicht die Instrumentalisierung von Bildung durch die Politik. Er stellt Struktur und Inhalt von Bildung in Frage: ''Wir haben ein Schulsystem, das Kinder reicher und deutscher Eltern nach oben und Kinder armer und ausländischer Eltern nach unten bringt.'' Er weiß, diese Debatte wurde schon einmal, in den 1970er Jahren, in der Bundesrepublik geführt. Das Ergebnis Gesamtschule überzeugt den 30-Jährigen nicht. Mit der systemtheoretisch angelegten Studie ''Nation, Gemeinschaft, Bildung. Die Evolution des modernen skandinavischen Wohlfahrtsstaates'', die voraussichtlich im August im Schneider Verlag Baltmannsweiler erscheint, meldet sich der Leipziger Pädagoge jetzt vernehmlich zu Wort.
    Seit drei Jahren als Dozent an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität mit der Ausbildung künftiger Lehrer betraut, hat er sich tief in die norwegische sowie schwedische und dänische Geschichte eingegraben. Seine Frage nach der ''anderen Schule'' führte ihn bis ins Jahr 1814 zurück, das die Geburt des norwegischen Nationalstaates markiert: Norwegen - das sich einerseits aus dem Königreich Dänemark gelöst hatte und andererseits in eine Personalunion mit Schweden eingetreten war - gab sich eine eigene Verfassung. An diesem Punkt stieß Werler auf den Anfang seiner Antwort: ''Innerhalb Norwegens begann ein Diskurs über das eigene Selbstverständnis.'' Dieser wurde getragen von einer bäuerlichen Gemeinschaft, die in lokalen Siedlungsgruppen lebte und einheimische Adelseliten nicht kannte. In dieser ''patriarchalen Community'' sieht Werler den Kern des späteren Wohlfahrtsstaates einschließlich seines Schulsystems angelegt. ''Eine in sich geschlossene Gemeinschaft bringt eine einheitliche Schule hervor.'' Zumal Schule - angesichts der Tatsache, dass die eigene Schriftsprache in Abgrenzung zum Dänischen erst entwickelt werden musste - als Ort des neuen Schreibenlernens auch ein Anker der nationalen Identitätsfindung wurde.
    So treiben bereits die historischen Wurzeln von Bildung in Norwegen (und vergleichbar auch in Schweden und Dänemark) in eine andere Richtung als in Deutschland: Dort münden sie - über mehrere Stufen hinweg - in die Entwicklung der Einheitsschule, die heute zuerst in eine allgemeine zehnklassige Schule und anschließend in eine dreijährige Grundbildung für Beruf bzw. Hochschule führt. Derweil enden hierzulande die Wurzeln - getreu dem Humboldtschen Prinzip der Elitebildung - parallel in drei Schulabschlüssen; selbst die Gesamtschule bietet letztlich nur das gebündelte Nebeneinander von Haupt- und Realschule sowie Gymnasium.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die skandinavische Entwicklung durch die Diskussion um den Begriff und Inhalt des Volksheimes in Schweden gestärkt. Im Kern drehte sich dieser Diskurs um den Anspruch, alle Menschen, die in einem Staat leben, auch in diesen einen Staat zu integrieren. In der Konsequenz fragt der skandinavische Wohlfahrtsstaat nach dem ''guten Leben'', wie es möglich ist und wie es für alle möglich ist; dem deutschen Sozialstaat geht es hingegen um soziale Sicherung. Praktisch reicht der Anspruch des ''guten Lebens'' so weit, dass Schweden jedem ausländischen Kind das Recht auf Unterricht in der eigenen Muttersprache gewährt - mit dem Ziel, den Anschluss an den schwedischsprachigen Unterricht und den Zugang zur schwedischen Gesellschaft zu erreichen. Kinder tatsächlich in die Gesellschaft zu integrieren, verlangt geradezu Chancengleichheit vom Start weg. Im Sinne des Volksheimes müssen alle Bildungsinstitutionen allen offen stehen, unabhängig vom sozialen, wirtschaftlichen oder regionalen Hintergrund - Volksbildung ist Volkes Bildung auf Volkes Grund. ''Das charakterisiert das Bildungssystem im Wesentlichen bis heute.''
    Auf Deutschland übertragen lasse sich das skandinavische Modell allerdings nicht, so Dr. Werler. Nachdem in Skandinavien seit über 200 Jahren Schule und Gesellschaft im Gleichklang auf die Erziehung von Persönlichkeiten zielen statt auf die Anhäufung von Fachwissen, hat sich nicht allein ein eigenes Verständnis von Bildung ausgeprägt, Bildung genießt auch eine hohe Anerkennung. Was Deutschland daraus lernen kann? ''Dass Bildung einen Wert hat und kein Kostenfaktor ist.'' Alles andere ist Geschichte.

    Publikation:
    Tobias Werler: Nation, Gemeinschaft, Bildung. Die Evolution des modernen skandinavischen Wohlfahrtsstaates und das Schulsystem. Schneider Verlag. Baltmannsweiler 2004 (angekündigt).

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Dr. Tobias Werler
    Telefon: 0341 97-31433
    E-Mail: werler@rz.uni-leipzig.de
    Fax: 0341 97-31429


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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