Über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind junge Ostdeutsche einer neuen Studie zufolge bei Spitzenpositionen weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Zwar haben sie die gleichen Chancen, auf mittlere Führungspositionen zu gelangen. In Top-Positionen seien jedoch Westdeutsche viel zahlreicher vertreten, sagt der Soziologe Dr. Jörg Hartmann vom Research Centre Global Dynamics der Universität Leipzig. Für seine Untersuchung hat er Daten des Sozio-oekonomischen Panels aus den Jahren 1990 bis 2020 analysiert. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der „Zeitschrift für Soziologie” publiziert.
Die Studie verdeutlicht, dass diese Unterrepräsentanz nicht auf einen Mangel an qualifizierten Kandidat:innen aus Ostdeutschland zurückzuführen ist: „Selbst bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung haben Westdeutsche in Ostdeutschland bessere Chancen, eine Spitzenfunktion zu erreichen“, sagt Hartmann. So ergab die Analyse unter anderem, dass jüngere westdeutsche Frauen und Männer in Ostdeutschland eine etwa doppelt so große Chance auf höhere Führungspositionen haben wie ostdeutsche. In Westdeutschland dagegen unterscheiden sich die Chancen auf höhere Führungspositionen zwischen Ost- und Westdeutschen nicht.
Hartmann kommt zu dem Schluss, dass sich die Benachteiligung ostdeutscher Männer nicht durch Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur, im Humankapital, den Arbeitslosigkeitserfahrungen oder der sozialen Herkunft erklären lässt, sondern dass die Befunde auf eine nachhaltige Wirkung des Elitentransfers der 1990er Jahre hindeuten: Nach der Wende wurden die einstigen DDR-Eliten meist durch relativ junge westdeutsche Nachwuchskräfte ausgetauscht, die neue Strukturen in Ostdeutschland aufgebaut haben und teilweise jetzt noch in diesen gehobenen Positionen tätig sind.
Spitzenpositionen seien vor allem unter Repräsentationsgesichtspunkten interessant, betont Hartmann, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am bundesweiten Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt zu sozialen Ungleichheiten forscht. Personen in diesen Positionen übten viel Macht in Unternehmen, Gerichten, Medien oder Verwaltungen aus und es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass ganze Personengruppen dauerhaft ausgeschlossen werden. Das erhöhe die Attraktivität populistischer Narrative, gibt Hartmann zu bedenken. Repräsentationsdefizite in Spitzenpositionen bestehen aber nicht nur bei Ostdeutschen, sondern auch bei Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte: „Meine Befunde zu Ostdeutschen zeigen, dass auch hier noch Handlungsbedarf besteht“, erläutert der Forscher.
Zudem nahm Hartmann auch geschlechtsspezifische Entwicklungen unter die Lupe: „Überspitzt formuliert sind es vor allem westdeutsche Männer, denen der Aufstieg in Führungspositionen gelingt, insbesondere bei den höheren Führungspositionen.” Unmittelbar nach der Wende hat es noch Vorteile für ostdeutsche Frauen gegeben, die sich aber relativ schnell angeglichen haben. Betrachtet man die Führungspositionen insgesamt, zeigen sich heute kaum Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Frauen.
Im Vergleich zu bisherigen Studien untersucht diese die Benachteiligung von Ostdeutschen in Führungspositionen anhand einer einheitlichen Definition und Datenbasis über einen Zeitraum von 30 Jahren und ermöglicht damit erstmals methodisch belastbare Aussagen über die langfristige Entwicklung von Ost-West-Unterschieden. Erstmals werden in diesem Beitrag die Ursachen für die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen untersucht. Der Studie zufolge hat die Kohorte der 1955 bis 1959 geborenen ostdeutschen Männer eine um 30 Prozentpunkte geringere Chance auf eine Führungsposition als gleichaltrige westdeutsche Männer. Diesen Unterschied gab es in der Kohorte der 1985 bis 1989 geborenen ostdeutschen Männer nicht mehr. Dagegen ist die Chance der zwischen 1955 und 1959 geborenen ostdeutschen Frauen auf eine Führungsposition etwa 75 Prozentpunkte höher als die gleichaltriger westdeutscher Frauen. Für jüngere Kohorten der Frauen finden sich keine Unterschiede mehr.
Im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist eine angemessene Repräsentanz für Ostdeutsche in Führungspositionen beschlossen worden. Solange man aber nicht mehr über die genauen Ursachen wisse, seien passende Maßnahmen nur schwer zu identifizieren, so der Autor. „Sollten zukünftige Studien zeigen, dass auch Netzwerke, das Herkunftsmilieu oder Diskriminierung eine Rolle spielen, könnte über eine erweiterte Rolle von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragten nachgedacht werden”, regt Hartmann an. Langfristig hilfreich sei jedoch auch eine stärkere Förderung der wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen in Ostdeutschland. Solange der Osten keine ähnliche wirtschaftliche und politische Bedeutung habe wie andere Regionen, werde sich dies vermutlich auch in den Machtstrukturen – wie etwa der Besetzung von Spitzenpositionen – widerspiegeln.
Das Sozio-oekonomische Panel ist die größte Langzeitstudie in Deutschland, in deren Rahmen jährlich etwa 30.000 Personen in Deutschland befragt werden. Diese repräsentative Studie gibt es seit den 1980er Jahren. Sie gilt als sehr aussagekräftig in Bezug auf Einstellungen und das gesellschaftliche Leben in Deutschland. Gefördert wird sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und von den Ländern.
Freya Leinemann
Dr. Jörg Hartmann
Research Centre Global Dynamics der Universität Leipzig
Telefon: +49 341 97 37848
E-Mail: joerg.hartmann@uni-leipzig.de
Veröffentlichung in der „Zeitschrift für Soziologie“: "Gleiche Teilhabe oder dauerhafte Nachteile? Die Chancen von Ostdeutschen auf Führungspositionen", doi.org/10.1515/zfsoz-2024-2004
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2024-2004/html
https://www.diw.de/de/diw_01.c.626116.de/forschung_des_soep.html
Dr. Jörg Hartmann
Foto: Max Niemann
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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