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15.02.2024 18:10

25 Jahre Lawinenwinter 1999

Dr. Martin Heggli Medienkontakt WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL

    Vor 25 Jahren befanden sich die Alpen im Ausnahmezustand. Enorme Schneemassen führten verbreitet zu «sehr grosser Lawinengefahr», der höchsten Gefahrenstufe. In der Folge ereigneten sich zahlreiche Lawinenunfälle. Das SLF bietet zu diesem Thema mehrere Beiträge an.

    Der schneereiche Winter 1998/99 führte zu zahlreichen Lawinenunfällen, in der Schweiz und im gesamten Alpenraum. Was Mitarbeitende des SLF in dieser Extremsituation erlebt und welche Erkenntnisse sie gewonnen haben.

    Fünf bis acht Meter Neuschnee innerhalb von vier Wochen am Alpennordhang, unterbrochene Strassen und Bahnlinien, abgeschnittene Ortschaften, teilweise ohne Strom, Einheimische und hunderttausende Touristen sassen fest – der Lawinenwinter 1999 jährt sich zum 25. Mal. Innerhalb eines Monats richteten Lawinen allein hierzulande Schäden in Höhe von rund 600 Millionen Schweizer Franken an. 17 Menschen kamen allein in der Schweiz ums Leben.

    Auslöser war eine besondere Wettersituation. Gleich drei Mal kurz hintereinander traten niederschlagsreiche Nordweststaulagen auf: vom 26. bis 29. Januar, vom 5. bis 10. Februar und vom 17. bis 24. Februar. Sie führten zu intensiven Schneefällen. Erstmals seit der Einführung 1993 herrschte die höchste Lawinenwarnstufe fünf («sehr gross») grossflächig für mehrere Tage hintereinander.

    Die Mitarbeitenden des SLF arbeiteten zum Teil täglich, auch an den Wochenenden – so sie an ihren Arbeitsplatz kamen. Der heutige Leiter des Lawinenwarndiensts Thomas Stucki übernachtete eigens bei einem Kollegen, da die Strasse zu seinem Wohnort gesperrt war (siehe auch Interview mit Thomas Stucki zum Lawinenwinter 1999). Permafrost-Expertin Marcia Phillips war eine Woche lang im Ortsteil Monstein von der Aussenwelt abgeschnitten. «Das war auch schön», sagt sie heute. Sie und einige ihrer damaligen Kolleginnen und Kollegen erzählen hier von ihren Erlebnisse in diesem Extremwinter, darunter SLF-Leiter Jürg Schweizer, der sich an eine teils hektische und angespannte Stimmung erinnert.

    Der Lawinenwinter 1999 in der Schweiz in Zahlen:
    - Rund 1200 Schadenlawinen in den Schweizer Alpen
    - 28 Verschüttete, von denen 17 nicht überlebten (ohne touristische Unfälle)
    - 131 verschüttete Schneesportlerinnen und Schneesportler, von denen 19 ums Leben kamen
    - Sachschäden in Höhe von mehr als 600 Millionen Schweizer Franken
    - Indirekte finanzielle Folgen für die Tourismusbranche vermutlich mehr als 300 Millionen Schweizer Franken

    Nach der dritten und letzten Niederschlagsperiode erkundeten mehrere Mitarbeitende mit dem Helikopter das Ereignis und untersuchten einzelne Lawinenniedergänge im Detail. So flogen Jürg Schweizer und Lukas Stoffel nach Leukerbad, wo eine künstlich ausgelöste Lawine das halbe Dach eines Mehrfamilienhauses weggerissen und eine Strasse verschüttet hatte. Danach ging es weiter – und auf Bitten der Behörden zum Schneeprofil graben in einem 35 Grad steilen Hang 1500 Meter oberhalb eines teilevakuierten Dorfes. Ungefährlich war das nicht. «Da lagen drei bis vier Meter Schnee, das war wirklich ein komisches Gefühl», erinnert sich Stoffel. Letztendlich fanden die beiden keine Schwachschicht. «Aber dennoch, es war schon so, entweder war die Evakuierung nicht angebracht, oder wir waren tollkühn», sagt Schweizer rückblickend.

    Die grossen Lawinenwinter in der Schweiz und ihre Folgen:
    1887/88: mehr als 1000 Lawinen, erstmals werden Schäden dokumentiert
    1951: rund 1300 Schadenlawinen, der Lawinenwarndienst wird ausgebaut, der Stützverbau in Anrissgebieten wird forciert
    1954: 325 Schadenlawinen, Lawinenmodelle entstehen
    1968: besonders schwer traf es Davos, die Bedeutung von Gefahrenkarten wird offensichtlich, deren Erarbeitung forciert
    1999: rund 1200 Schadenlawinen, temporäre Schutzmassnahmen werden forciert
    2018: rund 150 Schadenlawinen, es zeigt sich, dass sich die Kombination von permanentem und temporärem Lawinenschutz bewährt

    Marcia Phillips wurde nach Evolène geschickt, weil sie französisch spricht. Dort war der folgenschwerste Lawinenniedergang in diesem Winter in der Schweiz, der zwölf Menschen das Leben kostete, und das drittschwerste des Landes im 20. Jahrhundert. Phillips kartierte die Lawinen, nahm Schäden auf und fotografierte diese. «Die ganze Zeit über wurde ich von Einheimischen zum Kaffee eingeladen, die Menschen wollten von ihren Erlebnissen erzählen.»

    Die Lawinenexperten waren auch international gefragt. Stefan Margreth, heute Leiter der Forschungsgruppe Schutzmassnahmen, und der Geophysiker Paul Föhn flogen im Auftrag des Landesgerichtes Innsbruck ins österreichische Galtür, um das dortige Unglück zu untersuchen, das grösste des Winters. Eine Lawine hatte den Dorfteil Winkl zerstört. 31 Personen starben. Die Schneemassen waren in Bereiche vorgedrungen, die gemäss der Gefahrenkarten als sicher galten. Die Justizbehörden stellten ihre Verfahren ein.

    Anders im Falle von Evolène. Das Walliser Kantonsgericht verurteilte den Gemeindepräsidenten und den Sicherheitschef zu bedingten Gefängnisstrafen. Erst 2006, sieben Jahre nach dem Unglück, wurden die Urteile rechtskräftig. Der Beschluss verunsicherte zahlreiche Mitarbeitende der Lawinendienste. Das SLF untersuchte eigens, ob tatsächlich Grund zur Sorge besteht und kam zum Schluss, das Urteil verschärfe nicht die Sorgfaltspflichten. «Zudem hat die Schweiz seit dem Lawinenwinter 1998/99 zahlreiche Massnahmen ergriffen, damit Lawinendienste in einer ähnlichen Situation die Lage noch besser meistern können», sagt Jürg Schweizer als Hauptautor der Analyse.

    Der Lawinenwinter beschäftigte die Forschenden am SLF noch viele Jahre. Zahlreiche Studien sowie ein rund 600 Seiten starkes Buch entstanden (siehe unten). Aus den Analysen gingen zahlreiche neue Projekte und Ideen für den Schutz vor Lawinen hervor. «Der Lawinenwinter 1999 hat vor allem im Bereich der organisatorischen Massnahmen grosse Anstrengungen ausgelöst», sagt Schweizer und verweist als Beispiel auf das Interkantonale Frühwarn- und Kriseninformationssystem IFKIS, entwickelt vom SLF und Vorläufer des heute verwendeten Systems SLFPro. Eine weitere Erkenntnis war, dass Lawinen zu sprengen eine sinnvolle, kostengünstige Alternative zu Lawinenverbauungen ist. Gleichzeitig wurde laut Margreth aber auch die Bedeutung der Bauten klar: «Abschätzungen zeigen, dass im Februar 1999 rund 300 Schadenlawinen durch deren Wirkung verhindert wurden.»

    «Die Dimension der Lawinen war beeindruckend»

    Thomas Stucki leitet den Lawinenwarndienst am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF. Im Interview erinnert er sich an den Lawinenwinter 1998/99. Es war der dritte Winter als Lawinenwarner für den damals 31-Jährigen.

    Herr Stucki, sind Sie und ihre Kollegen im Winter 1998/99 vor lauter Schnee überhaupt noch an ihren Arbeitsplatz gekommen?

    Für alle, die nah am Institut gewohnt haben, ging das gut. Ich selbst wohnte etwas entfernt in Frauenkirch und hatte immer eine Tasche mit Kleidern dabei für den Fall, dass die Straße geschlossen werden könnte. An einem frühen Morgen, ich war noch zu Hause, hatte mich der Leiter des Gemeinde-Lawinendienstes Davos angerufen, um sich mit mir über die Lawinensituation auszutauschen und dann gesagt, er würde jetzt die Straße nach Frauenkirch schließen. Ich habe mich darauf schleunigst auf den Weg ans SLF gemacht und für ein paar Tage bei einem Kollegen übernachtet.

    Konnten Sie denn noch wie gewohnt arbeiten?

    Im Grundsatz ja – wir gaben aber zusätzliche Lawinenbulletins heraus und brauchten mehr Leute, z.B. um die vielen Anfragen zu beantworten. Zudem mussten die vielen gemeldeten Lawinen, die bis in die Talsohlen abgingen, festgehalten werden. Schneedeckeninformation gab es eher weniger als sonst, weil der Aktionsradius der Beobachter stark eingeschränkt war. Es gab ja dann schlussendlich gebietsweise fünf bis acht Meter Neuschnee. Das sind gewaltige Mengen. Und es war gefährlich. Seit der Einführung der fünfteiligen europäischen Gefahrenstufenskala im Jahr 1993 war es das erste Mal, dass wir die Stufe fünf großflächig und über längere Zeit benutzt hatten. Ausserordentlich war auch, dass wir am Ende der dritten Periode Erkundungsflüge mit Helikoptern gemacht hatten. Davon habe ich schon noch ein paar sehr eindrückliche Bilder im Kopf.

    Welche?

    Die Dimension der Lawinen war beeindruckend, und die häufig eingeschneiten Lawinenverbauungen – gut hat es nicht noch mehr Schnee gegeben. Und dass teilweise das Gelände etwas anders aussah als sonst, weil da eben so viel Neu- und Triebschnee lag.

    Wie funktionierte der Lawinenwarndienst damals?

    Wir hatten ein und zwei Winter zuvor einiges neu eingeführt: Ein dreiköpfiges Bulletinteam, Bulletinausgabe um 17 Uhr als Prognose für 24 Stunden, erste regionale Lawinenbulletins für gewisse Gebiete morgens um acht Uhr zur räumlichen und zeitlichen Verdichtung der Information, und wir hatten ein neues, gemeinsames Produkt mit Meteo Schweiz, die Frühwarnung für Schnee und Lawinengefahr. Wir hatten wohl Computer-Tools zur Darstellung der Daten in der Datenbank, haben aber viel mit Papier und Farbstift gearbeitet. Viele Informationen kamen per Fax rein. Zum Informationsaustausch haben wir häufig mit regionalen Lawinendiensten telefoniert.

    Die Telefonleitung hat demnach funktioniert.

    Ja, schon. Auch Mobiltelefone gab es schon, es waren aber keine Smartphones. Da kommt mir noch etwas in den Sinn: Im Haus des Kollegen, bei dem ich übernachtet hatte, gab es gerade einen Ort, an dem Handyempfang war, und da lag das Pikett-Telefon dann auch immer – heute kaum mehr vorstellbar.

    Und wenn der nächste Lawinenwinter kommt?

    Wenn eine solche Situation heute eintreten würde, dann wäre es bestimmt wieder eine Herausforderung, weil wir mit ausserordentlichen, seltenen Lawinenlagen grundsätzlich wenig Erfahrung haben. Aber ich bin überzeugt, dass wir diese meistern würden.


    Weitere Informationen:

    https://www.slf.ch/de/news/25-jahre-lawinenwinter-1999/ News auf der SLF-Website
    https://www.slf.ch/de/news/die-dimension-der-lawinen-war-beeindruckend/ Interview mit Thomas Stucki auf der SLF-Website
    25 Jahre danach: SLF-Mitarbeitende berichten vom Lawinenwinter 1999
    25 Jahre danach: Thomas Stucki berichtet vom Lawinenwinter 1999


    Bilder

    Von einer Lawine beschädigtes Gebäude in Evolène, Kanton Wallis, Schweiz
    Von einer Lawine beschädigtes Gebäude in Evolène, Kanton Wallis, Schweiz
    Marcia Phillips, SLF

    Lawinenabgang im SLF-Testgelände Vallée de la Sionne am 25. Februar 1999, Arbaz, Kanton Wallis, Schweiz
    Lawinenabgang im SLF-Testgelände Vallée de la Sionne am 25. Februar 1999, Arbaz, Kanton Wallis, Schw ...
    Marcia Phillips, SLF


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, jedermann
    Geowissenschaften, Umwelt / Ökologie, Verkehr / Transport
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

    Von einer Lawine beschädigtes Gebäude in Evolène, Kanton Wallis, Schweiz


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    Lawinenabgang im SLF-Testgelände Vallée de la Sionne am 25. Februar 1999, Arbaz, Kanton Wallis, Schweiz


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