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16.02.2024 12:04

„Die da oben, die da unten?“ - Soziologische Studie der Freien Universität Berlin widerlegt Polarisierungsthese

Christine Xuan Müller Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Migration und europäische Integration sind Reizthemen, die seit Jahren ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Doch so sehr sie die Geister scheiden – die Fronten verlaufen nicht zwischen „Privilegierten“ mit Top-Jobs und „einfachen Leuten“. Eine neue Studie der Soziologin Prof. Dr. Céline Teney der Freien Universität Berlin widerlegt das Klischee, Arbeiter:innen ließen sich vor populistische Karren spannen. Die Studie ist gerade im Fachmagazin „European Societies“ erschienen und unter dem Link abrufbar: https://doi.org/10.1080/14616696.2024.2312948

    Auf der einen Seite die Besserverdienenden in den Innenstädten – pro EU, pro Einwanderung. Auf der anderen Seite das Proletariat auf dem Land und in den Außenbezirken – europaskeptisch, latent migrationsfeindlich. Dieses Bild entsteht in Talkrunden, dient Parteien im Wahlkampf und prägt Diskussionen in sozialen Medien. Doch was ist dran an der vermeintlichen Polarisierung zwischen dem „kleinen Mann auf der Straße“ und dem „progressiven Bildungsbürgertum“?

    Strukturelle Polarisierung ist eine Legende

    Wenig! Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Freien Universität Berlin.* Professor Dr. Céline Teney und Dr. Stephan Dochow-Sondershaus haben untersucht, wie sich die Meinungen zur Einwanderung und zur Europäischen Union zwischen Menschen in hochqualifizierten beziehungsweise geringqualifizierten Berufen unterscheiden. Um eine strukturelle Polarisierung zu behaupten, so die Soziolog:innen, wären zwei Annahmen zu erhärten. Erstens müssten Architekt:innen oder Manager:innen deutlich andere Einstellungen beziehen als etwa Kellner:innen oder Hilfsarbeiter:innen. Zweitens müssten sich die Positionen innerhalb der Berufsklassen als tendenziell homogen erweisen.**

    Die erste Annahme ließ sich bestätigen: Arbeiter:innen stehen der Migration und der EU im Schnitt kritischer gegenüber als hochqualifizierte Menschen. Beispielsweise glauben 14 Prozent der gering qualifizierten Arbeiter:innen, dass Zugewanderte der Wirtschaft schaden. Bei den besonders hoch Qualifizierten sind es nur 4 Prozent. Den 14 Prozent stehen unter den Geringqualifizierten allerdings 36 Prozent gegenüber, die Zuwanderung als gut für die Wirtschaft betrachten. Und die übrige Hälfte nimmt diverse Mittelpositionen ein. „Diesen Umstand konnten wir kontinuierlich bis in die frühen 1990er-Jahre zurückverfolgen“, sagt Dr. Stephan Dochow-Sondershaus . „Wir finden keine Belege für die Annahme, Geringqualifizierte würden einen einheitlichen Gegenpol zu den sogenannten Eliten bilden.“

    Spaltungsversuche aussichtslos – vorerst

    Céline Teney interpretiert diesen Befund so: „Zwar beeinflussen die Berufswahl und die damit einhergehende soziale Stellung, mit welchen Menschen wir uns umgeben und welcher Alltagskultur wir anhängen. Unsere gesellschaftspolitischen Einstellungen lassen sich aber nur bedingt aus unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsklasse ablesen.“ Dies gelte für gering qualifizierte Arbeiter:innen sogar in höherem Maße als für Angehörige der besonders hoch qualifizierten Berufsklasse: Die Spreizung der Meinungen unter Hilfsarbeiter:innen und Frisör:innen ist deutlich höher als unter Ärzt:innen und Unternehmer:innen. Daraus folgt für die Soziologin, dass es Parteien und gesellschaftspolitischen Strömungen vorerst nicht gelingen wird, die unteren Berufsklassen für die eine oder andere Position zu mobilisieren. „Den sogenannten einfachen Menschen pauschal zu unterstellen, empfänglicher für Populismus zu sein, ist arrogant und sachlich falsch.“

    Unterm Strich widerlegt die FU-Studie die These von der Spaltung der Gesellschaft. Céline Teney und Stephan Dochow-Sondershaus warnen allerdings davor, sich darauf zu verlassen, und verweisen auf die USA. „Das Narrativ von den realitätsfernen Eliten, das dort so zerstörerisch wirkt, kann sich auch in deutschen Köpfen festsetzen“, fürchtet Céline Teney. „Würde sich daraus eine gemeinsame Identität gering qualifizierter Menschen entwickeln, könnte auch das Mobilisierungspotenzial steigen.“ Mut mache wiederum der Trend der vergangenen Jahrzehnte, ergänzt Stephan Dochow-Sondershaus. „In der Tendenz haben liberale Positionen seit Ende der 90er-Jahre schichtenübergreifend an Bedeutung gewonnen, auch in der Arbeiterschaft.“

    Über die Studie

    * Unter dem Titel „ Opinion Polarization of Immigration and EU Attitudes between Social Classes – The Limiting Role of Within-Class Dissensus ” werten Céline Teney und Stephan Dochow-Sondershaus Daten aus vier wissenschaftlich anerkannten Umfragen aus. Es handelt sich um die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), den European Social Survey (ESS), die German Longitudinal Election Study (GLES) und das International Social Survey Program – National Identity Module (ISSP). Die breite Datenbasis, der lange Untersuchungszeitraum von mehr als drei Jahrzehnten sowie der Fokus auf den beruflichen Hintergrund heben die neue Studie von früheren Arbeiten ab.

    ** Die Autor:innen unterscheiden fünf Berufsklassen und folgen damit einem Vorschlag des Wirtschaftssoziologen Daniel Oesch. Zu Klasse 1 gehören unter anderem Ärzt:innen und Journalist:innen, zu Klasse 3 Restaurantbesitzer:innen und zu Klasse 5 Taxifahrer:innen und Kassierer:innen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Céline Teney, Freie Universität Berlin, Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften, E-Mail: celine.teney@fu-berlin.de
    Web: https://www.polsoz.fu-berlin.de/soziologie/arbeitsbereiche/makrosoziologie/team/...


    Originalpublikation:

    https://doi.org/10.1080/14616696.2024.2312948


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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