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10.07.2024 16:24

Sündenböcke gesucht: Rassismus infolge verlorener Sportturniere

Eva Schissler Kommunikation und Marketing
Universität zu Köln

    Eine soziologische Studie über rassistisch motivierte Hasskriminalität nach der verlorenen Fußball-EM 2020 in London zeigt, dass negative Voreinstellungen von Fans gegenüber Minderheiten Gewalt verstärken können.

    Sportgroßereignisse können dazu führen, dass rassistisch motivierte Hasskriminalität ansteigt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Athlet*innen, die zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit gehören, für das schlechte Abschneiden eines Landes verantwortlich gemacht werden. Das ergab eine soziologische Studie, die Dr. Christof Nägel von der Universität zu Köln und Dr. Mathijs Kros von der Universität Utrecht gemeinsam mit Dr. Ryan Davenport vom University College London infolge der Niederlage des englischen Teams beim Finale der Fußball-Europameisterschaft der Männer 2020 durchgeführt haben. Sie stellten in den Wochen nach dem Sportereignis einen Anstieg rassistisch motivierter Hasskriminalität um 30 Prozent in London fest. Die Ergebnisse der Studie „Three Lions or three scapegoats: racial hate crime in the wake of the Euro 2020 final in London“ sind als Preprint erhältlich und werden in der Fachzeitschrift Sociological Science erscheinen.

    Das englische Team stand seit dem WM-Sieg 1966 nicht mehr im Finale eines internationalen Turniers. Beim EM-Finale 2020 im Londoner Wembley-Stadion standen sich England und Italien gegenüber. Bei einem Spielstand von 1:1 nach regulärer Spielzeit und Verlängerung kam es zum Elfmeterschießen. Während die beiden weißen Spieler Harry Kane und Harry Maguire für England Treffer landeten, verschossen die drei schwarzen Engländer Marcus Rashford, Jadon Sancho and Bukayo Saka. Das italienische Team, das drei Treffer gelandet hatte, gewann den Titel.

    Ein Ventil für Frustration

    Die Soziologie geht davon aus, dass Hasskriminalität häufig nicht spontan entsteht, sondern sogenannte „Trigger-Ereignisse“ benötigt. So stiegen etwa infolge des 11. September 2001 und nach der Präsidentschaftswahl Donald Trumps 2016 in den USA die Zahlen an. Das Vereinigte Königreich verzeichnete infolge des Brexit-Referendums einen Anstieg. Als theoretische Erklärung für den Anstieg von Hasskriminalität nach dem Fußballfinale in London ziehen die Autoren einerseits die „frustration-aggression theory“ heran, bei der Menschen nach einer Frustration oder Niederlage einen (vermeintlich) Verantwortlichen identifizieren, der „ihre Pläne durchkreuzt hat“ und so zum Objekt von Wut und Aggression wird. Andererseits berufen sie sich auf die „scapegoating theory“, bei der die Verantwortung für das Pech einer Gruppe einer anderen, gesellschaftlich marginalisierten Gruppe zugeschoben wird, um ein positives Bild der eigenen Gruppe aufrecht zu erhalten.

    Infolge der EM-Niederlage waren die drei englischen Spieler, die verschossen hatten, in den sozialen Medien einer Welle von Beschimpfungen ausgesetzt, die sich explizit auf ihre Hautfarbe bezogen. Twitter UK verzeichnete schon während des Finales und in den darauffolgenden 24 Stunden 1.622 rassistische Tweets. Der Hass richtete sich nicht nur gegen die individuellen Spieler, sondern zielte auf alle Menschen mit schwarzer Haut im Vereinigten Königreich.

    Welche Rolle spielen Voreinstellungen?

    Die Forscher wollten herausfinden, wie sich der Anstieg in rassistisch motivierter Hasskriminalität auch in der physischen Welt verteilt. Zur Untersuchung der Welle nach der EM 2020 griff das Team auf statistische Daten der Londoner Polizei zurück, um Tendenzen für einzelne Stadtbezirke zu identifizieren. „Uns interessierte, ob es in Stadtvierteln mit einer Vorgeschichte rassistischer Gewalt jetzt erneut zu mehr Gewalt kommen würde, oder ob das Ereignis Menschen in Stadtteilen ‚mobilisieren‘ würde, die keine solche Vorgeschichte haben“, sagt Christof Nägel vom Kölner Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.

    Frühere soziologische Forschung hatte etwa festgestellt, dass infolge der Silvesternacht 2015/16, als junge Männer überwiegend nordafrikanischer Herkunft auf der Kölner Domplatte und anderswo in Deutschland sexuelle Übergriffe auf Frauen verübten, in Regionen Deutschlands die Hasskriminalität gegen als muslimisch gelesene Menschen anstieg, in denen sie vormals niedrig war. Kollektiv empfundene Wut – so die Annahme – führe zum Überdenken der eigenen, eigentlich positiven Einstellung gegenüber einer bestimmten Gruppe.

    „Unter manchen englischen Fußballfans war Rassismus schon vor der EM 2020 weit verbreitet“, sagt Ryan Davenport vom University College London. Man könnte also davon ausgehen, dass rassistisch motivierte Hasskriminalität nach diesem Trigger-Ereignis nicht stark ansteigt, da die bestehende negative Voreinstellung „bestätigt“ wird und nicht neu überdacht werden muss. „Andererseits könnte die Gewalt nach dem Ereignis in Gruppen mit einer negativen Voreinstellung verstärkt werden: Es bietet sich die Gelegenheit, bestehende Vorurteile noch vehementer und gewalttätiger zum Ausdruck zu bringen“, sagt Mathijs Kros von der Universität Utrecht. Dann dürfte der Anstieg besonders in Stadtteilen stark sein, in denen solche Taten durch früheres Verhalten normalisiert sind.

    Die Ergebnisse zeigen, dass in den Wochen nach dem verlorenen EM-Finale rassistisch motivierte Gewalttaten in London insgesamt um 30 Prozent stiegen. Dabei gab es mehr Vorkommnisse in Stadtteilen mit einer Vorgeschichte solcher Gewalt. „Das stützt die Annahme, dass Trigger-Ereignisse keinen homogenen Effekt auf Gesellschaften haben, sondern eher bereits vorhandene Einstellungen verstärken“, resümiert Kros. Die Ergebnisse scheinen also die Forschungsergebnisse zur Kölner Silvesternacht ein stückweit zu entkräften. Nägel und seine Mitautoren sehen diesen Unterschied in der Natur des Trigger-Ereignisses: „Während die EM-Niederlage eine singuläre frustrierende Erfahrung war, nahmen Menschen in Köln die Ereignisse der Silvesternacht als bedrohlich war. Das führte zu einem tiefergreifenden Überdenken der eigenen Voreinstellungen.“

    Die Autoren sehen im Sport jedoch auch Beispiele, wie Diversität zu positiven gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen kann: „Frühere Forschung zeigt, dass extrem erfolgreiche Fußballspieler wie etwa Mohamed Salah vom FC Liverpool einen deutlich messbaren abmildernden Effekt auf rassistische Hasskriminalität haben können“, so Nägel. Der aus Ägypten stammende muslimische Stürmer „Mo“ Salah war 2017 zum FC Liverpool gewechselt, was laut einer weiteren Studie einen deutlichen Rückgang von islamophober Gewalt und Einstellungen in der Stadt bewirkte.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Christof Nägel
    Institut für Soziologie und Sozialpsychologie
    Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
    Universität zu Köln
    +49 221 470 76802
    naegel@wiso.uni-koeln.de


    Originalpublikation:

    https://www.researchgate.net/publication/382117881_Three_Lions_or_Three_Scapegoa...


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Sportwissenschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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