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20.07.2004 16:00

Sind die Osteuropäer schon in Brüssel angekommen?

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    100 Tage erweiterte Europäische Union (8.8.2004) - ein Gespräch mit Stefan Troebst, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und stellvertretender Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO)

    100 Tage sind seit dem 1. Mai, dem Beitritt von zehn neuen Staaten zur Europäischen Union, vergangen. Lässt sich heute schon sagen, welches dieser Länder die Chance auf einen ähnlichen wirtschaftlichen Aufschwung wie beispielsweise Irland hat?

    S. T.: Estland, Ungarn, Slowenien - das sind die, die nicht auf die Segnungen der EU gewartet, sondern schon vorher angefangen haben, sich auf die EU hin auszurichten. Gerade Estland hat einen eklatanten Wandel von einem desolaten sowjetischen Hinterhof im Jahr 1991 zu einer extrem boomenden Wirtschaft plus angrenzender Infrastruktur, Wissenschaft, Dienstleistungen vollzogen.

    Das dortige Kabinett verwendet nicht ein Blatt Papier in seinen Sitzungen, dafür steht an jedem Platz ein Laptop...

    S. T.: Dramatische gesellschaftliche Umbrüche bieten eben auch die Chance, bestimmte Technologiestufen zu überspringen. In die Sackgasse des Faxgerätes sind viele erst gar nicht eingebogen; die sind direkt vom sowjetischen Kurbeltelefon in die E-Mail-Kommunikation eingestiegen. Jeder estnische Bürger hat Anspruch darauf, dass seine Belange an staatliche Behörden per E-Mail innerhalb kurzer Frist beantwortet werden müssen. Der ganze Behördenapparat ist transparent, das verändert die Mentalität der Beamten schlagartig - sie sind natürlich darauf bedacht, dass ihre Bürger zufrieden sind, weil sie wissen, sonst kriegen sie eine Heidenarbeit.

    Überholt der Osten nun doch den Westen? Hat sich der ''alte Westen'' mit den neuen Partnern übernommen?

    S. T.: Man könnte sagen, die Europäische Union ist das Opfer ihres eigenen Erfolges. Seit ihren Anfängen - 1951 als Montanunion von Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Italien sowie Luxemburg und den Niederlanden gegründet - hat sie sich als Gemeinschaft für ganz Europa verstanden und artikuliert. Das ist zum einen eine Aussage, die man nach 1989 nicht einfach übergehen konnte. Zum anderen wurde diese aus westlicher Sicht in der Tat zu Teilen nur rhetorisch gemeinte Aussage aus östlicher Sicht wirklich ernst genommen.

    In diesem Sinne charakterisierte Milan Kundera 1984 die Staaten des so genannten Ostblocks als ''gekidnappten Westen'', der nach dem Zweiten Weltkrieg von der sowjetischen Armee als Geisel genommen worden war, der jedoch seiner Historie und seiner Kultur nach zum westlichen Europa gehört. Heute aber polemisiert der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus offen gegen die EU. Wie geht das zusammen?

    S. T.: Es ist geradezu grotesk, wenn der Staatspräsident notdürftig verklausuliert sagt, es widerspräche den Interessen der Nation, Mitglied der EU zu sein. Dann muss man eben entweder wieder austreten oder man muss derartige Äußerungen unterlassen. Ich finde es bedenklich, dass in den neuen EU-Staaten relativ viele Akteure Politik mit antieuropäischer Rhetorik machen, so wie im Großbritannien der 1950er bis 1980er Jahre. Dabei wissen solche Populisten ja auch keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Die Polemik zeigt lediglich, wie kurz das institutionelle Gedächtnis von Staaten und Nationen ist.

    Genügen also 40 Jahre, um historische Wurzeln zu kappen? Oder gab es diese Wurzeln gar nicht?

    S. T.: Nein, es hat sie nicht gegeben. In der Zwischenkriegszeit zum Beispiel war das Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Polen extrem schlecht. Polen hat sich 1938 an der Zerstückelung der Tschechoslowakei durch Hitler beteiligt, indem es einen Teil Mährisch-Schlesiens besetzte - aus tschechischer Sicht war Polen damals ein Verbündeter des Dritten Reiches. Das einzige positive Verhältnis gab es im 19. Jahrhundert mit der polnischen Unterstützung für die ungarische Nationalbewegung. Aber wenn Sie heute einen jungen Ungarn danach fragen, ist das nicht mehr präsent. Praktisch hat die EU den entführten Westen von Kundera administrativ hergestellt, indem sie alle - Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechische Republik, Slowenien - in eine Gruppe gepackt hat. Aber das hat nicht dazu geführt, dass diese Staaten interagiert hätten.

    Aber für die Öffentlichkeit in den alten EU-Staaten gelten die neuen Staaten - abgesehen von Malta und Zypern - als homogene Gruppe...

    S. T.: Das stimmt eben nicht. Es ist eher eine Ironie der Geschichte, dass die EU sie jetzt doch wieder in eins gesetzt hat. Zwar gab es 1990 eine übergreifende Organisation, die Visegrád-Gruppe mit der damaligen Tschechoslowakei, Ungarn und Polen. Aber die Gruppe ist schon drei Jahre später nach heftigem Streit zerfallen; man ist nicht gemeinsam, sondern jeder für sich nach Europa gegangen. Selbst die drei baltischen Republiken haben in der Tat wenig miteinander zu tun - außer dass sie geografisch Nachbarn sind.

    Und dass sie ein Problem mit ''ihren'' staatenlosen Russen haben?

    S. T.: Eigentlich hätten Estland und Lettland die Frage der großen staatenlosen Minderheiten - darunter viele ehemalige Angehörige der sowjetischen Streitkräfte und ihre Familien - vor dem Beitritt zur EU lösen müssen. Aber das haben sie, in provozierender Weise, nicht getan. Und: Es erfolgte keine Sanktion seitens der EU.

    Warum nicht?

    S. T.: Zum Teil, weil man das Argument ''Wir haben diese Russen nicht eingeladen, sie sollen dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind!'' moralisch nachvollziehen konnte. Und dann, weil man der Russischen Föderation diesen Triumph nicht gönnen wollte. Aber selbst, wenn sich dieses Problem nicht vor der EU-Erweiterung klären ließ, man hätte den Akteuren eine glaubhafte Verpflichtung abringen können - verbunden mit dem Hinweis, andernfalls die europäische Öffentlichkeit zu informieren: In Estland ist zwar Hightech groß geschrieben, aber ein Teil der Wohnbevölkerung wird in einer Art und Weise behandelt, die nicht mit europäischen Werten in Einklang zu bringen ist.

    Stichwort ''europäische Werte'' - was verbindet alte und neue EU-Ländern? Über die Teilhabe an wirtschaftlicher Prosperität hinaus?

    S. T.: Das an sich ist schon die Haupttriebkraft. In der Trias Demokratie-Rechtsstaatlichkeit-Marktwirtschaft steht die Marktwirtschaft als einer von drei zentralen Bereichen nicht nur für Entstaatlichung, sondern eben auch für Prosperität. Auch die Rechtsstaatlichkeit ist klar ein gesamteuropäischer Wert. Allerdings ist der in der EU an die Staatsbürgerschaft gebunden, und zwar an die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes. Ein staatenloser Russe in Estland hat also keine Möglichkeit, in Brüssel um die EU-Staatsbürgerschaft zu bitten. Das gibt es nicht. Und bei der Demokratie ist es ebenso. Aus estnischer Sicht findet Demokratie dort statt, wo Staatsbürger Estlands oder andere EU-Bürger leben - für Nicht-Staatsangehörige gibt es keine Demokratie, kein Wahlrecht, keine Freizügigkeit, keine Appellationsinstanz. Dieser Zustand ist vor dem EU-Beitritt so gewesen und er ist heute so - in Estland wie auch in Lettland.

    Und die EU wird hier nicht intervenieren?

    S. T.: Nein, aus einem nahe liegenden Grund: Auch andere EU-Länder haben ungelöste Minderheiten-Probleme. Spanien hat sie mit ethnisch motivierter Gewalt im Baskenland; Frankreich hat Korsika; Großbritannien Nordirland... Da gibt es dann doch eine imaginäre Trennung der Mitglieder. Die einen sind die Guten, weil sie die Gründungsmitglieder sind; und die anderen, die haben die Chance, eines Tages zu den Guten zu gehören. Da wird mit zweierlei Maß gemessen - eindeutig.

    Die nächste Etappe der Erweiterung steht mit Bulgarien, Rumänien und ggf. Kroatien für 2007 im Kalender der EU. Auf welche Schwierigkeiten muss sich die Union vorbereiten?

    S. T.: Mit der jetzigen Erweiterung musste man feststellen, dass die EU-Außengrenzen nunmehr an Regionen anschließen, die wie das Gebiet Kaliningrad oder Weißrussland als hochgradig konfliktverdächtig gelten. Mit der Stufe 2007 würde die EU dann zudem an Moldova grenzen, dessen Ostteil von Wirtschaftskriminellen kontrolliert wird. Das heißt: Statt im Zuge der Erweiterung Konfliktherde zu befrieden, ist die EU näher an die Konfliktfelder gerückt. Die Quintessenz ist: Der EU ist klar ist, sie muss jetzt über diffizile, schwierige Probleme nachdenken - das ist die gute Botschaft. Die schlechte Botschaft ist, dass die vorläufigen Ergebnisse dieses Nachdenkens, die erst am 12. Mai - fast 14 Tage nach der Erweiterung mit dem Strategiepapier ''European Neighbourhood Policy'' vorgelegt wurden, bislang mehr als dürftig sind.

    Interview: Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Prof. Dr. Stefan Troebst
    Telefon: 0341 35-560, -584
    E-Mail: troebst@rz.uni-leipzig.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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