Die Mehrheit politisch engagierter Menschen erlebt digitale Gewalt. Eine Studie der Technischen Universität München (TUM) in Kooperation mit der Menschenrechtsorganisation HateAid zeigt, dass rund zwei Drittel der betroffenen Frauen online sexualisierte Angriffe erfahren haben. Rund ein Drittel aller Befragten, die digital angegriffen wurden, wurde auch physisch attackiert. Mehr als die Hälfte der Betroffenen hat ihr Verhalten geändert – von eingeschränkter Kommunikation bis hin zum geplanten Rückzug aus dem politischen Engagement.
Zur Bundestagswahl haben etliche Politikerinnen und Politiker angekündigt, aufgrund des Ausmaßes von Drohungen und Diffamierungen im digitalen Raum nicht mehr kandidieren zu wollen. Digitale Gewalt gefährdet also offenkundig das politische Engagement in Deutschland und so auch eine wichtige Säule der parlamentarischen Demokratie.
In Kooperation mit der Menschenrechtsorganisation HateAid hat ein Forschungsteam der Hochschule für Politik an der TUM rund 1.100 politisch engagierte Personen befragt. Der Großteil der Befragten waren Politikerinnen und Politiker auf kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene. Weitere Teilnehmende waren politisch engagierte Aktivistinnen und Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Journalistinnen und Journalisten, Publizistinnen und Publizisten sowie Parteimitlieder ohne politisches Amt oder Mandat. „Das Spektrum ist bewusst weit gefasst, weil neben Politikerinnen und Politikern auch weitere politisch Engagierte öffentliche Debatten mitprägen und darum ein Teil der politischen Willens- und Meinungsbildung sind“, erklärt Studienautorin Luise Koch von der Professur für Global Health an der TUM. Die nicht-repräsentative Online-Befragung fand von April bis Oktober 2024 statt und wurde durch zwölf qualitative Interviews ergänzt.
Hasskommentare, Drohungen, Diskriminierung
Die Studie zeigt, dass mehr als die Hälfte der politisch Engagierten von digitaler Gewalt betroffen ist, vor allem von Hasskommentaren, Drohungen und diskriminierenden Aussagen: 58 Prozent aller Befragten berichten von Anfeindungen in Online-Kanälen. Die meisten richteten sich gegen die politische Positionierung der Betroffenen.
Frauen (63 %) erlebten häufiger digitale Gewalt als Männer (53 %). Rund zwei Drittel der betroffenen Frauen berichten von geschlechtsspezifischer Gewalt wie Sexismus oder Frauenhass. Fast ein Viertel hat schon einmal Androhungen physischer sexueller Gewalt, zum Beispiel Vergewaltigungsdrohungen erhalten (Männer: 3 %). Männern wurde häufiger mit anderen Formen körperlicher Gewalt gedroht, etwa mit Schlägen oder Mord (51 % der Betroffenen, Frauen: 43 %).
Rund ein Drittel (jeweils 32 % bei Männern und Frauen) der Personen, die von digitaler Gewalt betroffen waren, haben auch physische Gewalt erlebt. Diejenigen, die nicht digital angegriffen wurden, wurden seltener physisch attackiert (Frauen: 14 %, Männer: 10 %).
Ton und Inhalte in sozialen Medien angepasst
Mehr als jede zweite betroffene Person veränderte ihre Kommunikation – vor allem Frauen denken ans Aufhören. Frauen (66 %) wie Männer (53 %) schränkten die Nutzung sozialer Medien ein. Sie passten etwa ihren Ton und ihre Inhalte an. 49 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer zogen zumindest manchmal in Erwägung, eine Aufgabe in einer Position, in der sie besonders häufig digitalen Anfeindungen ausgesetzt sein könnten, nicht anzunehmen. Auch über einen kompletten Rückzug aus der politischen Arbeit dachten deutlich mehr Frauen nach (22 %, Männer: 10 %).
Viele politisch Aktive fühlen sich im Stich gelassen. 66 Prozent der Frauen und 49 Prozent der Männer gaben an, sich hinsichtlich ihres politischen Engagements nicht ausreichend auf digitale Gewalt und ihre Folgen vorbereitet zu fühlen. Nur 45 Prozent der Politikerinnen und Politiker fühlten sich präventiv gut unterstützt. Mehr als die Hälfte der Betroffenen äußerte den Wunsch nach mehr Solidarität innerhalb ihrer Gemeinschaften und an ihren Arbeitsplätzen.
„Frauen bereits jetzt unterrepräsentiert“
„Die Ergebnisse zeigen: Frauen und Männer erleben zwar ähnlich viel Hass, weibliche politisch Engagierte sind jedoch deutlich stärker von sexualisierter Gewalt betroffen, die besonders belastend sein kann“, sagt Studienleiterin Janina Steinert, Professorin für Global Health an der TUM. „Die Auswirkungen sind eklatant. Frauen verändern häufiger ihre öffentliche Kommunikation oder überlegen, sich aus der Politik zurückzuziehen. Dabei sind Frauen bereits jetzt in Parlamenten und Parteien unterrepräsentiert.”
Das Studienteam und die Menschenrechtsorganisation HateAid empfehlen deshalb spezialisierte Anlaufstellen innerhalb der Parteien. Diese könnten Mitgliedern und Kandidierenden beispielsweise dabei helfen, Inhalte auf den Plattformen zu melden und Beweise zu sichern, sowie bei Strafanzeigen unterstützen. Anzeigen sollten in der Folge von Strafverfolgungsbehörden zügig verfolgt werden. Zudem sollte der Digital Services Act (DSA) gegenüber den Social-Media-Betreibern konsequent durchgesetzt werden. Gemeldete Inhalte müssten von den Plattformen rasch geprüft und gegebenenfalls entfernt werden.
Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid, betont: „Wir sehen es im aktuellen Wahlkampf: Durch den Hass und die Lügen, denen politisch aktive Menschen ausgesetzt sind, verändern viele die Art und Weise, wie sie Politik machen, handeln und kommunizieren. Es beeinflusst vor allem auch die Entscheidung darüber, ob und wie sie sich überhaupt noch engagieren. Das hat System und es muss uns alarmieren. Denn wenn sich immer weniger Menschen trauen, sich in unserer liberalen Demokratie zu engagieren, dann verlieren wir alle. Deshalb müssen jetzt Politik, Justiz, Parteien und Plattformen endlich alles dafür tun, Politikerinnen, Politiker und andere Engagierte effektiv zu schützen.“
Weitere Informationen:
Die Studie wurde vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gefördert.
Die Studie ist Teil des Projekts Misogynie 2.0 (Projektleiter Prof. Jürgen Pfeffer), in dem ein Forschungsteam von TUM und LMU Inhalt und Dynamik von Online-Misogynie untersucht und Methoden zur frühzeitigen Erkennung entwickelt. Dabei liegt der Fokus auf der Erfahrung von und dem Umgang mit digitaler Gewalt gegenüber politisch aktiven Frauen in Deutschland, Indien und Brasilien.
An der Studie waren die Professuren für Global Health (Prof. Janina Steinert, Luise Koch) und Computational Social Science (Dr. Angelina Voggenreiter) an der Hochschule für Politik (HfP) an der TUM beteiligt. Die Hochschule für Politik erforscht und lehrt die Wechselwirkungen von Politik und Technologie, die heute in nahezu allen Politikfeldern eine entscheidende Rolle spielt. Damit leistet sie einen bedeutenden Beitrag, den gesellschaftlichen Wandel infolge rasanter technologischer Entwicklungen zu verstehen und gestalten zu können.
Prof. Dr. Janina Steinert
Technische Universität München (TUM)
Professur für Global Health
Tel.: +49 89 289 22798 (Pressestelle)
janina.steinert@tum.de
HateAid, Koch, L., Voggenreiter, A., Steinert, J.I. (2025): Angegriffen & alleingelassen. Wie sich digitale Gewalt auf politisches Engagement auswirkt. Ein Lagebild. DOI: 10.17605/OSF.IO/J4STX
https://osf.io/j4stx/
http://www.hfp.tum.de/globalhealth/forschung/projekte/understanding-detecting-an... Projekt Misogynie 2.0
http://www.hfp.tum.de Hochschule für Politik an der TUM
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Recht
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch
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