Virtuelle Spielautomaten, die auf Computern, Tablets und Smartphones gespielt werden, stehen im Verdacht, noch stärker als klassische mechanische Automaten fehlerhafte Annahmen der Glücksspieler*innen in Bezug auf ihren Einfluss auf Spielergebnisse und Gewinnchancen zu befördern / Veröffentlichung in „Trends in Cognitive Sciences“
Strukturelle Designmerkmale von virtuellen Spielautomaten befördern wahrscheinlich spezifische Lernprozesse, die Glücksspieler*innen über das Belohnungssystem dazu anregen, fehlerhafte Erwartungen und Überzeugungen zu bilden. Das ist das Ergebnis einer Theorie- und Übersichtsarbeit des Kölner Kognitions- und Neurowissenschaftlers Professor Dr. Jan Peters, in der er Ergebnisse aus verschiedenen empirischen und theoretischen Arbeiten zusammenführt. Dabei beleuchtet Peters die Zusammenhänge zwischen dem Design von virtuellen Spielautomaten, sogenannten „multi-line electronic gambling machines“ und Lernprozessen, über die Spieler zu falschen Erwartungen im Hinblick auf die eigene Kontrolle und die Gewinnchancen im Rahmen dieser Glücksspiele kommen können. Die Arbeit ist unter dem Titel „A neurocomputational account of multi-line electronic gambling machines“ in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences erschienen.
Dass Glücksspiel im Belohnungszentrum des menschlichen Gehirns ähnliche dopaminerge Effekte auslösen kann wie Substanzsucht, ist schon länger bekannt. Seit einigen Jahren sind auf dem Glücksspielmarkt insbesondere sogenannte „multi-line electronic gambling machines“ sehr verbreitet. Diese Spiele werden auf Computern oder Geräten mit Touchscreen wie Smartphones und Tablets, aber auch in der Spielhalle oder Spielbank gespielt. Sie unterscheiden sich von klassischen mechanischen Glücksspielautomaten dadurch, dass Glücksspieler*innen auf sehr viele Gewinnlinien gleichzeitig setzen können. Somit gibt es mehr potenzielle Gewinnkombinationen sowie weitere zusätzliche Features, die für eine möglichst lange Spieldauer sorgen. Dazu gehören beispielsweise Verluste, die als Gewinne kaschiert werden und „Beinah-Gewinne“, bei denen das gewinnende Symbol die richtige Stelle ganz knapp verfehlt. Damit wird den Glücksspieler*innen suggeriert, dass der nächste Gewinn in greifbarer Nähe liegt.
Das Lernmodell, das Peters auf diese Situation anwendet, ist die sogenannte latente Zustandsinferenz, oder „latent state inference“. Das Konzept aus der Kognitionswissenschaft besagt, dass Menschen versuchen, ein internes Modell der Umwelt zu bilden, um Vorhersagen zu treffen. Hierbei fließen bisherige Erfahrungen und Erwartungen sowie das aktuelle Geschehen mit ein, um den momentanen Zustand der Umwelt (den „latenten Zustand“) abzuschätzen. Gleiche oder ähnlichen Situationen werden Individuen daher dem gleichen latenten Zustand zuschreiben.
Wenn sich Situationen beispielsweise im Hinblick auf die Belohnungserwartung unterscheiden, dann ist dies ein sehr sinnvoller Lernprozess. Im Fall von Glücksspiel ist der Ausgang der jeweiligen Glücksspielsituation jedoch nicht vorherzusehen, und die objektive Gewinnerwartung ist immer negativ. Virtuelle Automatenspiele aktivieren jedoch durch ihre eingebauten Features – Unsicherheit, knapp verpasste Gewinne, Verluste als Gewinn kaschiert, audiovisuelle Reize – dopaminerge Mechanismen, die das Lernen von latenten Zuständen verstärken können. Dies kann erklären, wie es dazu kommt, dass Glücksspieler*innen häufig fehlerhafte Überzeugungen und Erwartungen wie magisches Denken über Glückssträhnen oder über „heiße“ und „kalte“ Zustände des Automaten entwickeln, von denen sie glauben, dass jeweils unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden könnten.
„Häufig wird in der Diskussion über das Gefährdungspotenzial des Glücksspiels der Fokus auf individuelle Risikofaktoren gelegt. Die Rolle der Designmerkmale verschiedener Glücksspielformen wird dagegen leider oft vernachlässigt. Das Design von virtuellen Spielautomaten könnte jedoch, noch stärker als bei klassischen mechanischen Glücksspielautomaten, fehlerhafte Lernprozesse in den Glücksspieler*innen auslösen, die über das Dopaminsystem vermittelt werden. Dafür spricht auch, dass fehlerhafte Überzeugungen und Erwartungen wahrscheinlich durch das regelmäßige Glücksspiel ausgelöst oder verstärkt werden“, sagt Jan Peters. Diese Überzeugungen und Erwartungen tragen dann dazu bei, dass trotz hoher Verluste weitergespielt wird, mit teilweise dramatischen Folgen für Betroffene und deren Umfeld.
Weitere Studien sollten nun die Vorhersagen der Theorie direkt testen, zum Beispiel indem die Effekte spezifischer Designmerkmale experimentell untersucht werden. Auch könnte die Rolle von Dopamin mittels pharmakologischer Ansätze direkt getestet werden.
Professor Dr. Jan Peters
Department Psychologie, Humanwissenschaftliche Fakultät
+49 221 470 7750
jan.peters@uni-koeln.de
A neurocomputational account of multi-line electronic gambling machines - ScienceDirect
DOI:
https://doi.org/10.1016/j.tics.2024.12.009
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Gesellschaft, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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