Struktursteuerung durch Abstimmung der elektrischen Ladung
Ein Team von Physikern der Universität Wien und der Universität Edinburgh hat gezeigt, dass selbst kleine Änderungen des pH-Wertes und somit der elektrischen Ladung die räumliche Anordnung geschlossener ringförmiger Polymere (Molekülketten) verändern können – so änderte sich das Gleichgewicht zwischen Verdrehung und Windung, zwei unterschiedlichen Arten der räumlichen Verformung. Die in der Fachzeitschrift Physical Review Letters veröffentlichten Ergebnisse zeigen, wie die elektrische Ladung genutzt werden kann, um Polymere auf reversible und kontrollierbare Weise umzuformen – und eröffnen damit neue Möglichkeiten für programmierbare, reaktionsfähige Materialien. Bei solchen Materialien könnten etwa die Durchlässigkeit und mechanische Eigenschaften wie die Elastizität, Fließspannung und Viskosität besser kontrolliert und genau "programmiert" werden.
Das sogenannte Möbiusband ist eine Schleife mit einer einzigen Windung und einer durchgehenden Oberfläche. Fügt man weitere Drehungen hinzu, bevor man das Band schließt, wird die Struktur zu einer so genannten Supercoil. Solche Formen sind in der Biologie und den Materialwissenschaften weit verbreitet, insbesondere bei kreisförmiger DNA und synthetischen (künstlich hergestellten) Ringpolymeren. Ob und wie das Gleichgewicht zwischen Verdrehung – der lokalen Drehung des Bandes um seine Achse – und Windung – der großflächigen Aufwicklung des Bandes im Raum – kontrolliert und reversibel eingestellt werden kann, ist noch unklar. Das Forscherteam untersuchte diese Frage anhand eines Modellsystems ringförmiger Polymere, bei dem die elektrische Ladung – eingeführt durch pH-abhängige Ionisierung – als externer Abstimmungsparameter dient.
Von Windung zur Verdrehung
Um die Abstimmbarkeit dieses topologischen Gleichgewichts zu erforschen, kombinierten die Forscher Computersimulationen und analytische Theorie – so konnten sie untersuchen, wie sich die Ladung auf die atomare Anordnung von supergewickelten Ringpolymeren auswirkt. In ihrem Modell verhält sich jeder Teil des Moleküls wie eine schwache Säure, die je nach pH-Wert (gibt den Säure- oder Basengehalt wässriger Lösungen an) der sie umgebenden Lösung Ladung aufnimmt oder abgibt. Diese Anordnung ermöglichte einen allmählichen Aufbau der Ladung und zeigte, wie sich das Molekül als Reaktion darauf umformt.
Topologie als Design-Werkzeug
Die Idee, nicht nur die Molekülstruktur, sondern auch die Topologie als Werkzeug einzusetzen, eröffnet neue Wege zur Steuerung reaktionsfähiger Systeme. "Indem wir die lokale Ladung anpassen, können wir das Gleichgewicht zwischen Verdrehung und Windung verschieben – und das gibt uns eine Kontrolle über die Form des gesamten Moleküls", sagt Erstautor Roman Staňo von der Fakultät für Physik der Universität Wien (derzeit an der Universität Cambrigde). Da jedes Monomer (kleine Bausteine, die sich zu einem Polymer zusammenschließen können) Ladung gewinnen oder verlieren kann, formt sich das Polymer allmählich um – ein Verhalten, das echten Polyelektrolyten, wie etwa chemisch modifizierter DNA, ähnelt. Das Team schlägt vor, dass synthetische DNA-Ringe mit pH-sensitiven Seitenketten – die noch nicht experimentell realisiert wurden, aber dank der jüngsten Fortschritte in der Nukleotidchemie jetzt möglich sind – ihre Form kontrollierbar verändern könnten. Diese Moleküle würden als topologisch eingeschränkte Gerüste fungieren, die ihre Form als Reaktion auf lokale chemische Bedingungen anpassen.
Reaktionsfähige Formen, programmierbare Funktionen
Die Form von Polymeren ist nicht nur eine geometrische Eigenschaft, sondern bestimmt die die Materialeigenschaften, die Funktion des Materials und die Wechselwirkungen mit. Die Fähigkeit, reversibel zwischen verdrehungsreichen und windungsreichen Zuständen zu wechseln, bietet eine realistische Strategie für den Entwurf adaptiver Materialien. Ringpolymere, die auf subtile pH-Änderungen reagieren, könnten eines Tages in Geräten eingesetzt werden, in denen lokale Bedingungen kontrollierte Änderungen der Form und des Fließverhaltens auslösen. "Das Bemerkenswerte ist, dass der Übergang von kompakten zu ausgedehnten Formen kontinuierlich erfolgt, über den pH-Wert gesteuert werden kann und keine Änderungen der Molekültopologie erfordert", sagt Koautor Christos Likos von der Fakultät für Physik der Universität Wien. Dieser Effekt, so das Team, könnte experimentell in synthetischen DNA-Ringen realisiert werden – eine Möglichkeit, die durch die jüngsten Fortschritte in der Nukleotidchemie ermöglicht wird. Ihre Ergebnisse bieten auch einen weitern Einblick: Sie zeigen, wie die Materialfunktion nicht nur in der chemischen Zusammensetzung, sondern auch im topologischen Zustand kodiert werden kann – ein Hinweis auf eine neue Generation von formadaptiven Materialien.
Likos-Gruppe, Soft Matter Theory and Simulation, Universität Wien
https://comp-phys.univie.ac.at/likos/soft-matter-physics/
Michieletto-group, Topologically active polymers Lab, University of Edinburgh
https://www2.ph.ed.ac.uk/~dmichiel/
Univ.-Prof. Dr. Christos Likos
Fakultät für Physik
Universität Wien
1090 Wien, Boltzmanngasse 5
+43-(0)1-4277-73230
+43-(0)664-60277-73230
christos.likos@univie.ac.at
www.univie.ac.at
Roman Staňo, Christos N. Likos, Davide Michieletto, and Jan Smrek, Topology-Controlled Microphase Separation and Interconversion of Twist and Writhe Domains in Supercoiled Annealed Polyelectrolytes. In Physical Review Letters (2025).
DOI: https://doi.org/10.1103/7fh5-frst
Eine Skizze der Konformationen von superhelikalen Bändern in Abhängigkeit von der elektrischen Ladun ...
Copyright: Roman Staňo
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Chemie, Physik / Astronomie
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
Eine Skizze der Konformationen von superhelikalen Bändern in Abhängigkeit von der elektrischen Ladun ...
Copyright: Roman Staňo
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