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15.09.2025 13:11

Hohe Selbstzensur und wahrgenommene Einschränkungen unter Forschenden mit Nahostbezug: Neue Studie

Christine Xuan Müller Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Neue Studie liefert erstmals systematische Evidenz für Deutschland und zeigt: Fast 85 Prozent sehen eine gestiegene Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit. Besonders betroffen sind Nachwuchwissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler.

    Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich das Klima an deutschen Hochschulen für Forschende mit thematischem Bezug zu Israel und Palästina spürbar verändert. Das zeigt die neue Studie „Deutsche Wissenschaft seit dem 7. Oktober: Selbstzensur und Einschränkungen unter Forschenden mit Nahostbezug“ von Jannis Julien Grimm, Sven Chojnacki, Nina Moya Schreieder, Iman El Ghoubashy und Thaddäa Sixta, die am 15. September am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konflikforschung der Freien Universität Berlin veröffentlicht wurde.

    Auf Grundlage einer disziplinübergreifenden Online-Erhebung unter ca. 2000 Wissenschaftler*innen mit Arbeitsbezug zum Nahen Osten untersucht die Studie Wahrnehmungen von Einschränkungen, Praktiken der Selbstzensur und perzipierte Formen institutionellen Drucks. Die Ergebnisse machen ein Spannungsfeld sichtbar zwischen dem Anspruch offener Debatten und der Erfahrung von Diskursverengung, Anfechtungen und Sanktionierung. Die Daten zeigen kein Randphänomen, sondern eine breit geteilte Erfahrung von Verunsicherung und Zurückhaltung im Umgang mit Israel/Palästina. Besonders verletzlich sind Statusgruppen mit unsicheren Beschäftigungsbedingungen und hoher Drittmittelabhängigkeit. Zugleich betonen die Befragten den Schutz der pluralen Meinungsäußerung als zentrale Aufgabe akademischer Institutionen. Im internationalen Vergleich korrespondieren die Befunde mit den US-Erhebungen des Middle East Scholar Barometer und liefern erstmals systematische Evidenz für den deutschen Kontext.

    Zentrale Ergebnisse

    Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit: Knapp 85 Prozent der Befragten nehmen seit dem 7. Oktober eine zunehmende oder stark zunehmende Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit wahr. Unter Postdocs ist die Sorge mit 90,5 Prozent am höchsten.
    Selbstzensur als verbreitete Praxis: 25,9 Prozent berichten, oft das Gefühl zu haben, sich nicht frei äußern zu können. 76 Prozent geben an, sich insbesondere bei Israel-bezogenen Themen zurückzuhalten. Am häufigsten betrifft dies öffentliche Veranstaltungen (81 Prozent), Medienbeiträge (54 Prozent) und das eigene Kollegium (42 Prozent).
    Gründe für Zurückhaltung: Genannt werden vor allem Angst vor Missverständnissen, öffentlicher Anfeindung und beruflichen Konsequenzen. Drittmittelabhängigkeit verstärkt den Druck, insbesondere bei freien Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Postdocs.
    Institutioneller Druck: Mehr als 50 Prozent nehmen einen gestiegenen Druck wahr, das Thema Israel/Palästina an ihrer Institution zu meiden, während nur 27,8 Prozent einen gestiegenen Druck zur Äußerung verspüren.
    Betroffenheit und Angriffe: Nur 47 Prozent geben an, seit dem 7. Oktober keine Bedrohungen oder Einschränkungen erlebt zu haben. Andere berichten von Hassrede und Drohungen im Netz (19 Prozent), Antisemitismusvorwürfen (19 Prozent), medialer Diffamierung (16 Prozent), Ausladungen (16 Prozent) und institutioneller Ausgrenzung (14 Prozent).
    Breiter Konsens bei Grundrechten: Das Recht auf Studierendenproteste findet hohe Zustimmung, unabhängig von der politischen Ausrichtung der Befragten. Der Schutz der Meinungsfreiheit wird als vorrangige Aufgabe von Hochschulen bewertet.
    Status- und Disziplinunterschiede: Je prekärer und drittmittelabhängiger die Beschäftigung, desto höher das Bedürfnis zur Selbstzensur. Besonders hohe Werte zeigen sich in Arabistik und Islamwissenschaft, Kultur- sowie Politik- und Sozialwissenschaften.

    Methodik in Kürze

    Die Studie basiert auf einer standardisierten Online-Erhebung im Frühjahr 2025 unter in Deutschland tätigen Wissenschaftler*innen mit nachweisbarem fachlichem Bezug zur MENA-Region bzw. Israel/Palästina. Der Sampling-Frame wurde systematisch aus öffentlich zugänglichen Quellen aufgebaut und intern validiert. Einbezogen wurden Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sowie wissenschaftliche Think Tanks. Die Response-Rate lag im Durchschnitt bei rund 22 Prozent. Die Auswertung kombiniert quantitativ-statistische Analysen mit einer themengeleiteten Auswertung der Freitextantworten. Methodische Limitationen betreffen die Nicht-Kausalität des Querschnittsdesigns, Selbstberichtseffekte sowie mögliche Selektionsmechanismen.

    Einordnung

    Die Befunde weisen Parallelen zu dem Befund des Middle East Scholar Barometers in den USA auf sowie zu breiteren deutschen Erhebungen zu akademischer Redefreiheit und Anfeindungen gegen Forschende. Besonderheiten des deutschen Kontexts liegen in der hohen öffentlichen Politisierung des Israel/Palästina-Themas und institutionellen Reaktionen innerhalb von Hochschulen. Die Studie weist auf Handlungsbedarfe hin: gezielte Schutzmechanismen für Nachwuchs, Unterstützung bei Angriffen und eine Debattenkultur, die unterschiedliche Betroffenheiten anerkennt.
    Weitere Informationen

    Verfügbarkeit

    Ein Kurzbericht mit Grafiken und Tabellen steht ebenso wie eine umfassende deskriptive Auswertung der Umfrage als PDF zur Verfügung (siehe: https://www.interact.fu-berlin.de/News/Grimm-DW7O.html). Auf Anfrage stellen die Autor*innen zusätzliche Materialien bereit.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Jannis Julien Grimm, INTERACT Center for Interdisciplinary Peace and Conflict Studies, Freie Universität Berlin, E-Mail: jannis.grimm@fu-berlin.de


    Weitere Informationen:

    https://www.interact.fu-berlin.de/News/Grimm-DW7O.html


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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