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16.09.2025 15:47

„Überlandschreiberinnen“: Buch über die politischen Umbrüche in (Ost-)Deutschland

Dipl.-Journ. Carsten Heckmann Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Im vergangenen Jahr startete Dr. Alexander Leistner, Soziologe an der Universität Leipzig, das ungewöhnliche Projekt „Überlandschreiberinnen – Ways across the Country“. Nun ist das „Projektbuch“ erschienen, geschrieben von Leistner und den Schriftstellerinnen Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault. Es trägt den Titel „Extremwetterlagen – Reportagen aus einem neuen Deutschland“ und enthält eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Stimmen und Beobachtungen in ländlichen Regionen. Im Interview spricht Projektleiter Leistner über die Idee, das Vorgehen und wichtige Erkenntnisse. Das Buch deute an, „wie ernst die Lage ist“.

    In der Projektbeschreibung heißt es: „Mit Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault wurden drei namhafte Autorinnen als ‚Überlandschreiberinnen‘ ausgeschickt, um die Stimmung in Ostdeutschland zu ergründen, verborgene gesellschaftliche Brüche und Kipppunkte sichtbar zu machen. Während Manja Präkels gezielt zivilgesellschaftliche Initiativen und Brennpunkte in Brandenburg besuchte, bereiste Tina Pruschmann mit dem Fahrrad entlegene Regionen im sächsischen Erzgebirge. Barbara Thériault heuerte als Lokaljournalistin bei einer thüringischen Zeitung an, und Alexander Leistner folgte mentalen Entwicklungslinien.“

    Herr Dr. Leistner, der Transfergedanke spielt bei Ihnen seit jeher eine große Rolle. Dieses Projekt war sicher in vielerlei Hinsicht Neuland. Wie kam es dazu?

    Die Idee entstand vor mehr als zwei Jahren und aus einem Gefühl der wissenschaftlich informierten Beunruhigung heraus. Mich hatten – die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen vor Augen – verschiedene Frage umgetrieben: Wie kann Wissenschaft überhaupt Schritt halten mit den rasanten Erosionsprozessen vor allem im Lokalen, in kleinstädtisch-ländlichen Regionen? Brauchen wir nicht noch mal einen anderen Blick gerade auf das Atmosphärische politischer Umbrüche? Und brauchen wir nicht gerade in den sich im Kreis drehenden Debatten in und über Ostdeutschland eine andere Sprache? Und da war die Idee, analog zum Konzept des Stadtschreibers, jedem Bundesland, in dem gewählt würde, eine „Überlandschreiberin“ zuzuordnen, die über Monate hinweg die Wahlen begleitet. Aber um ehrlich zu sein, dachte ich niemals, für ein solches Projekt einen Mittelgeber zu finden und es war ein absoluter Glücksfall, dass die VolkswagenStiftung zeitgleich ein Förderprogramm aufsetzte, dass es wirklich ernst meint, wenn risikobehaftete Projektideen honoriert werden sollen.

    Der Untertitel des im „Verbrecher Verlag“ erschienenen Buches lautet „Reportagen aus einem neuen Deutschland“ – inwiefern handelt es sich um ein Produkt der Wissenschaft bzw. um Wissenschaftskommunikation?

    Der Titel ist bewusst gewählt als Verweis auf eine lange Traditionslinie innerhalb der Soziologie. Soziologen wie etwa Georg Simmel oder Siegfried Kracauer verfassten zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst Reportagen und Feuilletons in Zeitungen und etablierten damit eine fast vergessene soziologische Gattung, in der sich (Alltags)Beobachtungen mit deren fast beiläufiger Analyse verbinden und dabei unterhaltsam, hintergründig, klar und präzise, nahezu literarisch geschrieben werden. Das war die Idee, dass sich in dem Projekt und im Buch Soziologie und Literatur begegnen mit dem Ziel, zu einem tieferen Verständnis der politischen Umbrüche beitragen.

    Wen soll das Buch erreichen, was erhoffen Sie sich davon?

    An einer Stelle des Buchs heißt es „die Kunst, viele zu bleiben“. Und so würde ich sagen, es ist ein Buch für die Vielen. Jene, die sich in Ostdeutschland für Demokratie engagieren, die Sorge haben vor den Entwicklungen, die sich jenseits kurzatmiger Wahlberichtserstattung für Ostdeutschland interessieren. Aber auch für alle, die Lust haben, in Alltagsbeobachtungen zu entdecken, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Und wohin. Und in diesem letzten Sinne ist es ein Buch auch für politisch Verantwortliche: Es deutet an, wie ernst die Lage ist.

    Wie muss man sich das Vorgehen vorstellen? Haben Sie den Schriftstellerinnen wissenschaftliche Methoden an die Hand gegeben?

    Nein, aber wir haben uns intensiv ausgetauscht und verständigt: über die Orte, darüber ganz offen zu beobachten. Sie sollten ihre Stärken in die Waagschale werfen und die wissenschaftliche Erkenntnis entstand – das war unsere Erfahrung – anders: aus der Kraft und Sprache der literarischen Beschreibung, die analytisch oft viel dichter ist, als wissenschaftliche Texte es leisten könnten. Erkenntnis entstand aus dem Prinzip der Montage von Einzelbeobachtungen zu einem größeren Bild oder aus der Ambivalenz, wenn sich unsere Beobachtungen auf den ersten Blick widersprachen. Was heißt es denn, wenn wir beides beobachten, den Machtanspruch auf den öffentlichen Raum und die Straße durch Rechtsextreme und gleichzeitig die Leere der Straßen im Alltag?

    Hat sich das Format bewährt? Was würden Sie wieder genauso machen, was anders?

    Für so eine anspruchsvolle Kooperation war die einjährige Projektförderung eine Herausforderung, weil wir uns sehr schnell finden mussten und manchmal die Zeit fehlte, noch viel intensiver über die Fülle der Beobachtungen zu sprechen. Und das wurde auch verstärkt durch die irrsinnige Dynamik der politischen Verhältnisse – da ist, wenn man an die USA denkt, Ostdeutschland nur ein Teil einer weltweiten Entwicklung. Und auch wenn eine Riesenstärke unseres Schreibens die Verlangsamung ist – noch ein paar mehr Ruhepausen hätten uns sicher gut getan. Es gibt auch einen kleinen Text dazu im Buch über unsere Müdigkeit.

    Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden inhaltlichen Erkenntnisse?

    Eine Erkenntnis steckt im Untertitel – dass wir in einem „neuen Deutschland“ leben. Es ist die Beobachtung, das die Erosionsprozesse von Demokratie schon so weit fortgeschritten sind, dass man bei bestimmten Themen oder in bestimmten Regionen fragen kann, ob wir immer noch vor diesen Umbrüchen leben, mittendrin, oder schon in einem diffusen Danach. Aber das Buch lebt gerade von der Vielzahl von Beobachtungen und den Fragen, die das aufwirft. Zum Beispiel: Was geschieht, wenn nichts geschieht – also wie verändert sich ein lokales Klima, wenn das Reden über Politik total abwesend ist? Oder die Beobachtung, dass es eine Zug- und eine Autorfahrergesellschaft gibt. Wo begegnen sich solche sozialen Kreise und was bedeutet es, dazu- oder nicht dazuzugehören?

    Welche Projekte gehen Sie als nächstes an? Und welche Form der Wissenschaftskommunikation würde Sie noch brennend interessieren?

    Gerade haben wir einen Antrag bei VolkswagenStiftung gestellt, das Projekt noch mal größer und länger zu fördern. Und allein das würde ganz neue Möglichkeiten eröffnen, denn jetzt beginnt ein ganz spannende Phase. Wir sind mit dem Buch bald auf Lesetour an großen und hoffentlich vielen kleinstädtisch-ländlichen Orten. Und aus dem Unterwegssein, dem Feedback und den Publikumsreaktionen entstehen schon wieder die nächsten Texte und Forschungsfragen.

    Über den Projektleiter: Dr. Alexander Leistner verantwortete am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig unter anderem auch zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989“. Bei seinen Forschungen zu Umbrüchen in der politischen Kultur Ostdeutschlands und zu den damit verbundenen Gefährdungen für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen spielt der Transfergedanke stets eine wichtige Rolle. So hat Leistner mit seinem Team für den Forschungsverbund Erbe ´89 etwa das Format der Praxiswerkstätten entwickelt, das seit vielen Jahren zweimal jährlich einen Austausch mit einem festen Kreis von Pädagog:innen der außerschulischen Geschichtsvermittlung ermöglicht und Professionalisierungsprozesse in deren Tätigkeitsbereich anregt.

    Für sein „konsequentes, mutiges und öffentlich wirksames Engagement“, wie es in der Begründung hieß, erhielt Dr. Alexander Leistner 2024 den Transferpreis der Universität Leipzig.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Alexander Leistner
    Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig
    Telefon: +49 341 97-35677
    E-Mail: a.leistner@uni-leipzig.de


    Weitere Informationen:

    https://waysacrossthecountry.de


    Bilder

    Dr. Alexander Leistner, Soziologe an der Universität Leipzig, startete das ungewöhnliche Projekt „Überlandschreiberinnen – Ways across the Country“.
    Dr. Alexander Leistner, Soziologe an der Universität Leipzig, startete das ungewöhnliche Projekt „Üb ...
    Quelle: Swen Reichhold
    Copyright: Universität Leipzig


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Politik, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Dr. Alexander Leistner, Soziologe an der Universität Leipzig, startete das ungewöhnliche Projekt „Überlandschreiberinnen – Ways across the Country“.


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