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25.10.2004 13:38

Die Großstadt als Tollhaus diagnostiziert

Gabriele Rutzen Kommunikation und Marketing
Universität zu Köln

    Die Großstadt als Tollhaus diagnostiziert
    Die Werke Alfred Döblins aus medizinhistorischer Sicht

    Alfred Döblin (1878-1957) kannte das Milieu der Proletarierviertel im Berliner Osten genau, denn hier war er aufgewachsen und jahrzehntelang als Arzt tätig. Nur deshalb war er in der Lage, den ersten und bis heute bedeutendsten deutschen Großstadtroman zu schreiben: "Berlin Alexanderplatz". Die Gegend um den "Alex" war aus der Perspektive eines Kollegen, der an der Gedächtniskirche praktizierte, "eine Art Kongo". Den Niederschlag von Döblins ärztlicher Tätigkeit in seinem literarischen Werk und die Wechselbeziehung zwischen seinen beiden Berufen untersuchte Dr. Regina May vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität zu Köln.

    Tagtäglich erlebte Döblin in seiner Kassenarztpraxis die Menschen, die er in seinem 1929 erschienenen Hauptwerk so eindringlich schildern sollte: arme Arbeiter, Kriminelle, Prostituierte, Kriegsversehrte, kurz - die vom Leben im Moloch Berlin geknechteten. "Ich habe diesen Menschenschlag (...) beobachten können, und zwar in der Weise, die die einzig wahre ist, nämlich indem man mitlebt, mithandelt, mitleidet." Für diese ist er "Arzt für alles" - die Fachausbildung war noch nicht einheitlich gegliedert. Er kuriert allgemeine und nervliche Leiden, betreibt Geburtshilfe, Psychoanalyse und auch die Themen seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind breit gestreut.

    Nach seiner Dissertation über Gedächtnisstörungen bei durch Alkoholmißbrauch bedingten Psychosen war er zunächst Nervenarzt in Einrichtungen, die Irrenanstalten hießen. Immer wieder werden sich die Figuren seiner Bücher wahnsinnig gebärden, und er wird diesem Zustand eine mystisch-visionäre Komponente beimischen. "Das Spucken und Husten des Irren ist Poesie geworden, seine Halluzinationen, seine Wahnideen". Er weiß, daß es sich dabei um eine literarische Mode, die allerdings zeitlos zu sein scheint, handelt und bemerkt: "Niemand fühlt sich genötigt, über den Rheumatismus nachzudenken, die Poesie des Gichtanfalls auszumünzen, das Hühnerauge zum Motiv einer Trauerode zu machen." Ironischerweise niemand außer ihm, denn in späteren Werken werden Hühneraugen und Gicht noch eine Rolle spielen.

    Den Wahnsinn stellt er nicht nur durch das Pandämonium des brodelnden Berlins der 20er Jahre zur Schau, sondern diagnostiziert ihn auch an einem bekannten Zeitgenossen. "Die Verbindung eines krankhaften Seelenlebens mit einer üppigen Phantasie und einem sehr scharfen Verstand ist keine Neuigkeit. (...) Bei seiner Judenbesessenheit handelt es sich um eine ihn persönlich betreffende, medizinische Kategorie, durch ihren Träger wird sie aber eine allgemein politische Kategorie." Döblin emigrierte schon am Tag nach dem Reichstagsbrand 1933.

    Die Nazis beendeten auch eine andere Entwicklung, die Döblin als Arzt, als Schriftsteller und als Privatmann beschäftigte: eine erste sexuelle Revolution. Die 20er Jahre brachten den selbstverständlichen Umgang mit Prostitution, die Emanzipation der Frau und der Homosexuellen, sowie den Kampf gegen den Paragraphen 218. Döblin selbst leidet moralisch sehr an der Abtreibung einer von ihm verursachten Schwangerschaft. Magnus Hirschfeld, ein enger Kollege von ihm, gründet 1919 die erste Sexualberatungsstelle. All das spiegelt sich authentisch in Döblins Büchern. Dort trifft man Franz Biberkopf, den Protagonisten des "Alexanderplatz", genötigt, homosexuelle Pornografie zu verkaufen oder an einer anderen Stelle findet sich eine minuziöse physiologische Beschreibung des Erektionsvorgangs. Döblin gesteht zur eigenen Biografie, zum ersten Mal die weibliche Scham während seiner Ausbildung an einer Leiche gesehen zu haben. Sexualität, Gewalt und Morbidität erscheinen immer wieder eng verbunden.

    Viele der über vier Millionen Berliner wurden damals wegen der verheerenden Wohnungssituation krank. Großfamilien hausten auf engstem Raum in maroden Mietskasernen. "Ist ordentlich duster heute. Zu hohe Häuser", heißt es bei Döblin salopp. Er schildert die Todesstatistiken, wo Armutskrankheiten wie Tuberkulose beherrschend sind, und die hohe Säuglingssterblichkeit auffällt. Auch Suizid war häufig und das Ertränken die bevorzugte Methode. Das ist die Welt, durch die sich Franz Biberkopf und all die anderen aus der Masse kämpfen und die Alfred Döblin mithilfe seiner beim Arztberuf geschulten Sinne eingefangen und konserviert hat.

    Verantwortlich: Volker Weinl

    Für Rückfragen steht Ihnen Professor Dr. Dr. Klaus Bergdoldt unter der Telefonnummer 0221/478-5266, der Fax-Nummer 0221/478-6794 und unter der Email-Adresse bergdolt@uni-koeln.de zur Verfügung.

    Unsere Presseinformationen finden Sie auch im World Wide Web unter http://www.uni-koeln.de/pi/.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    regional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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