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01.03.1999 13:31

Helden im Schlafrock: Russische Staatsdiener im 19. Jahrhundert

Gertraud Pickel Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Leben und Selbstverständnis der russischen Staatsdiener in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht Dr. Bernhard Chiari unter der Leitung von Prof. Dr. Helmut Altrichter am Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg in einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Unter anderem werden einige ausgewählte Biographien in allen greifbaren Details rekonstruiert. Vor allem die Lebensumstände der kleineren und mittleren Beamten des Zarenreiches sollen so nachvollziehbar werden. Veränderungen in Politik und Kultur, der Wandel von Denkweisen und Gewohnheiten werden am Beispiel einer Gruppe demonstriert, die eine wichtige soziale Rolle spielte, obwohl sie in der agrarisch strukturierten russischen Gesellschaft nur eine Minderheit stellte.

    Eitel und engstirnig sieht er aus, der russische Beamte im Morgenrock, der in klassischer Pose und mit herrisch vorgeschobener Unterlippe auf seine Brust deutet. Dort, weithin sichtbar, ein Orden am langen Bande. Der gerade durch den Zaren Geehrte leidet offensichtlich noch unter den Folgen eines Zechgelages. Dies belegen zahlreiche Requisiten, die auf Tisch, Sesseln und Fußboden verstreut sind. Rasierzeug, Toilettespiegel, Duftwasser und kleine Schleifen im Haar zeigen, daß wir es mit einem Menschen zu tun haben, der mit der Mode geht und seiner äußeren Erscheinung den gebührenden Platz zukommen läßt. Dem Helden gegenüber und aus dem Bildhintergrund leicht zu ihm aufschauend, steht eine ländlich gekleidete Bedienstete. Sie reicht ihm mit der einen Hand die Stiefel, während die andere eine Kaffeemühle hält. In den Augen der jungen Frau liegt unverhohlener Spott über die pathetische Erscheinung ihres Herrn, die unbedingten Respekt vor der Macht des russischen Zaren fordert, in Wirklichkeit aber wohl eher das Gegenteil erreicht.

    Die geschilderte Szene, die der russische Salonmaler P. Fjodotow 1846 in Öl festhielt, führt mitten hinein in eine Welt, die über Bilder alleine nicht erschlossen werden kann. Das Gemälde, das sich heute im Bestand der Tretjakow-Galerie in Moskau befindet, karikiert außer dem Helden im Morgenrock die große Gruppe der russischen Staatsdiener insgesamt, ohne die Rußland nach den Napoleonischen Kriegen und noch vor dem Eingreifen kaiserlicher Truppen in die deutsche Revolution von 1848 nicht zur europäischen Großmacht aufgestiegen wäre.

    Tagebücher und Briefwechsel

    Diese Spezies, so behaupten böse Zungen, sei gegen Jahrhunderte des Wandels, sei gegen Revolution, ja sogar gegen den Sowjetstaat resistent gewesen und, angepaßt zwar an seine neuzeitliche Umwelt, auch im von Krisen geschüttelten Rußland der postsowjetischen Ära anzutreffen. Trotz allen Beharrungsvermögens: Der Ordensträger auf Fjodotows Bild ist längst den Weg alles Vergänglichen gegangen und kann nicht mehr selbst nach seinen Lebensgewohnheiten befragt werden. Für das geschilderte Projekt, das finanziert wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, müssen darum eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen gesammelt und ausgewertet werden.

    Dabei profitiert die Studie zunächst von solchen Archivmaterialien, wie sie typisch für historisches Arbeiten sind. In den Aktenschränken der Archive in St. Petersburg und Moskau lagern persönliche Dokumente wie Tagebücher, Briefwechsel oder Dienstkorrespondenz. Einige wenige Biographien sollen daher im Rahmen des Projektes derartig ausführlich rekonstruiert werden, daß Aussagen über die wichtigsten Lebensbereiche möglich werden. Dazu zählen die Ausbildung und der Dienstalltag, das Verständnis von Familie, Ehe und Erziehung, kulturelle Vorlieben und intellektuelle Leitbilder und Moden ebenso wie die unterschiedlichen Bilder der Staatsdiener von ihrem allerhöchsten Dienstherrn und von sich selbst.

    Außer in den genannten Quellen haben die Lebensläufe der Staatsdiener in vielen weiteren Bereichen ihre Spuren hinterlassen. Einen großen Schatz an entsprechenden Hinweisen bietet die russische Belletristik des 19. Jahrhunderts. Literarische Sujets liefern eine Fülle von Hinweisen darauf, wer die Diener des Imperiums wirklich waren, und wie sie von ihren Zeitgenossen wahrgenommen wurden.

    Zerrbilder als Anhaltspunkte

    Weithin bekannt, um nur ein Beispiel zu nennen, sind jene Figuren, die N.W. Gogol auf der ganzen Welt berühmt gemacht hat. Die Helden im Roman "Die Toten Seelen" oder im "Revisor" sind gekennzeichnet durch Behäbigkeit, Verschlagenheit und eine Machtfülle, die anscheinend eine fast unbegrenzte Akzeptanz der von den Staatsorganen getroffenen Entscheidungen bewirkten. Komische und bisweilen groteske Szenen in der Literatur sind ein Zerrbild der Realität, aber sie verweisen bei allen Verzerrungen doch auf die Wirklichkeit. Mit solchem Material zu arbeiten ist eine reizvolle Aufgabe für den Historiker, das Ergebnis wird hoffentlich ebenso reizvoll für den Leser sein.

    Die Lebensumstände und der kulturelle Hintergrund von Menschen lassen sich auch über ihre Konsumgewohnheiten oder den Wandel der Mode erschließen. Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist - dazu könnte man auch den stolzen Ordensträger auf Fjodotows Gemälde auffordern, und dies soll im Rahmen des Forschungsprojektes geschehen. Die Bedeutung der zeitgenössischen Belletristik in diesem Zusammenhang liegt auf der Hand. In den Städten des Russischen Reiches begannen sich aber auch, in einer russischen wie westlichen Traditionen verpflichteten Form, im 19. Jahrhundert die Anfänge der Publizistik auszubilden. Zeitungen und Journale spiegelten den Zeitgeist wider, so würden wir heute sagen. Sie sind darum unverzichtbar für die Rekonstruktion von Vergangenheit.

    Je nach dem sozialen Status einer Familie bildeten kulturelle Veranstaltungen wie Theater, Balett und Konzerte, private Zirkel, Salons, Abendgesellschaften und andere Zerstreuungen die wichtigsten Foren, an denen man sich austauschte. Der Leser soll Zeuge derartiger Ereignisse werden, auch, oder gerade wenn sich dort die Gespräche nicht immer um Politisches oder Erhabenes, um Vaterlandsliebe oder das allergnädigste Herrscherhaus drehten, sondern ebenso um Klatsch und Tratsch, Eifersüchteleien und Beförderungen, Gunstbeweise - und möglicherweise die Verleihung von Orden.

    Die ausführliche Beschreibung aller genannten Lebensbereiche machte eine "Universale Kulturgeschichte des Russischen Reiches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" notwendig. Derartige opera magna haben russische wie westliche Wissenschaftler bereits verfaßt. Sie sind Lebens- und Alterswerke. Reiz und Wert des jungen Erlanger Projektes liegen auf einer anderen Ebene. Zum ersten Mal sollen kulturelle, mentale und politische Veränderungen am Beispiel einer kleinen, aber für das agrarisch dominierte Russische Reich immens wichtigen sozialen Gruppe auf individueller Ebene nachvollzogen werden.

    Große Entwicklungen bilden den Hintergrund, auf dem biographische Miniaturen Einblick in individuelle Lebenswelten gewähren. Der Blick gilt dabei besonders den kleinen und mittleren Staatsdienern, die nicht am Hof in St. Petersburg ein und aus gingen oder auf den prächtigen Boulevards der Hauptstadt flanierten, sondern sich in der Provinz hochdienen mußten. Hier war der Glanz des Zarenhofes zumindest aus der Ferne sichtbar, wenn auch die Wege weit waren und der Arm des Herrschers in den seltensten Fällen bis in den fernsten Winkel des Imperiums reichte.

    Mechanismen der Herrschaft

    Der Leser kann sich auf eine Reihe von Episoden freuen, die ihm eine versunkene Welt nahebringen. Das Projekt soll aber auch Fragen klären, die über den direkten Untersuchungsgegenstand hinausweisen. Gewöhnlich beginnen Menschen damit, über einen Sachverhalt nachzudenken. Im Gegensatz dazu verpflichtet der Beruf des Historikers diesen, ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse zu haben und nachzuweisen. Im Fall der Staatsdiener ist dies die Frage, wie Herrschaft in Rußland funktionierte, wie ihre Voraussetzungen und Ausprägungen waren.

    Männer wie der von Fjodotow in Öl gebannte Held im Schlafrock waren es, die sich wandelnde Vorstellungen von Staat, Bürokratie und Kontrolle den russischen und nichtrussischen Bewohnern des Reiches bekannt machen mußten. An ihnen entschied sich der Erfolg oder Mißerfolg von europäisch beeinflußten Reformen. Sie repräsentieren die mangelnde Professionalität der russischen Bürokratie und zählten gleichzeitig zu den bevorzugten Zielen aller Bemühungen, von staatlicher Seite das Ausbildungssystem zu reformieren. Sie waren die Brücke zwischen der Autokratie und der großen Masse der illiteraten und meist leibeigenen Bauern, aber gleichzeitig das schwächste Glied in einer Kette, an der die Verbindung zwischen den Zentren der Macht und dem flachen Land abriß.

    Durch eine eigene Kultur, eigene Umgangsformen und ein ausdifferenziertes Werte- und Belohnungssystem sind die Staatsdiener ein ausgezeichnetes Beispiel für die Spielregeln, nach denen Staat und Gesellschaft im Russischen Reich funktionierten. Nach dem Abschluß des Erlanger Forschungsprojektes wird der Leser, so bleibt zu hoffen, das eingangs erwähnte Gemälde Fjodotows vor einem neuen Hintergrund sehen.

    Dr. Bernhard Chiari

    * Kontakt:
    Prof. Dr. Helmut Altrichter, Dr. Bernhard Chiari
    Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte
    Bismarckstraße 12, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22363


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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