Historiker der Universität Münster arbeitet Biographie des Sportfunktionärs und -pädagogen Carl Diem auf
Wie lässt sich ein Leben einordnen? Auf welche Weise können Nachgeborene bewerten, was notwendig und erlaubt ist, um bestimmte Ziele in ganz unterschiedlichen politischen Systemen zu verwirklichen? Zumal dann, wenn diese Systeme so verschieden sind wie das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die Bundesrepublik? Das Leben von Carl Diem, der als Sportpädagoge, -journalist und -historiker wirkte, Mitorganisator der Olympischen Spiele von Berlin 1936 war und als der bedeutendste Sportfunktionär Deutschlands im 20. Jahrhundert gilt, wirft diese Fragen auf. Denn bei allen Verdiensten überschatten die zwölf Jahre des Nationalsozialismus sein Leben so stark, dass Mitte der 90er-Jahre eine öffentliche Debatte darüber entstand, ob beispielsweise die vielen Carl-Diem-Straßen umbenannt werden müssten. Der Historiker PD Dr. Frank Becker vom Historischen Seminar der Universität Münster wird nun im Auftrag der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung, des Deutschen Sportbundes (DSB), des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und der Deutschen Sporthochschule Köln versuchen, das Leben und Wirken Diems in seinen jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten genauer zu beleuchten.
Die Sportgeschichte hatte Becker schon in seiner Dissertation berührt, sie gehörte bisher aber nicht zu seinen Hauptarbeitsgebieten. "Ich vermute, dass ich als Allgemeinhistoriker für dieses Projekt ausgewählt wurde, weil ich mehr Distanz zum Gegenstand habe als viele Sporthistoriker, die seit Jahren in Grabenkämpfe um die Beurteilung Diems verstrickt sind", meint Becker. Auslöser für die hitzigen Debatten um Diem sind Zitate wie "Sport ist freiwilliges Soldatentum", aber ebenso die Tatsache, dass Diem auch in der NS-Zeit wichtige Posten bekleidete und sich noch in der Schlacht um Berlin im Frühjahr 1945 im Volkssturm engagierte.
"Man darf derlei aber nicht aus dem Zusammenhang reißen", betont Becker. Diems Haltung zum Nationalsozialismus sei vielmehr durch eine tiefe Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits habe er sicherlich durch die Organisation der Olympiade von 1936 den Nazis eine prächtige Bühne für ihre Selbstdarstellung geliefert; andererseits gehe aber aus persönlichen Aufzeichnungen hervor, dass er immer eine innere Distanz zum Regime bewahrte. So lehnte er beispielsweise den Antisemitismus ab. Sein Menschenbild blieb durch den bürgerlichen Humanismus, durch die Bildungsidee Humboldts geprägt. Doch zugleich war Diem ein Taktiker, der jedem Ansprechpartner den damals noch um seine Anerkennung ringenden Sport auf seine Weise schmackhaft machte. "In diesem Zusammenhang könnte man auch das Zitat vom Sportler als freiwilligem Soldaten sehen", erklärt Becker. Diem bemühte die Tradition des Jahnschen Turnens, das immer mit der Wehrertüchtigung verknüpft war, um den Sport gegenüber den Militärs als besonders nützlich hinzustellen.
Eigentlich aber war Diem kein Turner, sondern ein Vertreter der Sportbewegung, die im späten 19. Jahrhundert aus den angelsächsischen Ländern nach Deutschland kam. Dass der Unterschied zwischen Turnen und Sport heute kaum noch bewusst ist, ist auch ein Verdienst Diems, der sich zeitlebens für die Aussöhnung dieser beiden "feindlichen Geschwister" einsetzte. Gewiss müsse eingeräumt werden, so Becker weiter, dass Diem immer bereit gewesen sei, sich formal der Argumentationsweise der Herrschenden zu bedienen - ob in Diktaturen oder Demokratien. Ob Diem deswegen zumindest als Opportunist verurteilt werden muss oder weiterhin als der große Weichensteller gelten kann, der dem Sport über viele Jahrzehnte hinweg den Weg geebnet hat, das versucht Becker in den kommenden drei Jahren zu klären.
"Die teilweise unsachlichen Diskussionen werde ich sicher nicht beenden können, aber ich will versuchen, die Person Diems in die Zeitgeschichte einzubetten - und dabei auch die Zeitgeschichte um einen wichtigen Aspekt zu erweitern, denn die Rolle des Sports für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung im 20. Jahrhundert ist bisher von der Geschichtswissenschaft noch nicht angemessen erkannt und gewürdigt worden." Dabei habe der Sport zu mehreren Revolutionen beigetragen: "Denken Sie an die Medien, an die Politik, die sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Sowjetunion des Sports als eines Motors der Veränderung bediente." Breiten Schichten der Bevölkerung sei durch den Sport eine völlig neue Körper- und damit auch Selbstwahrnehmung vermittelt worden.
Neben der Möglichkeit, solche Zusammenhänge herzustellen, bestehe der besondere Reiz einer Diem-Biographie aber auch darin, bisher unbekanntes Material zu erschließen; die Tagebücher und Korrespondenzen Diems warten noch auf eine systematische Auswertung: "Hier kann man auf Überraschungen gefasst sein". Profitieren soll das Projekt auch von einem intensiven Austausch mit Fachleuten aus dem In- und Ausland. Dafür werden in den nächsten Jahren in Kooperation mit Prof. Dr. Michael Krüger vom Institut für Sportwissenschaft vier Tagungen in Münster durchgeführt. Für diese Konferenzen, aber auch für Archivreisen und Hilfskräfte steht eine Fördersumme von 120.000 Euro zur Verfügung. Die erste Tagung, die Methodenfragen zur Erarbeitung von Biographien behandelt, findet Anfang Juli in Münster statt.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Sportwissenschaft
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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