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22.05.2009 10:07

Jahrestage - mehr als nur "Memoria-Kultur"?

Ulrike Jaspers Marketing und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main

    FRANKFURT. 23. Mai 2009 - der 60. Jahrestag des Grundgesetzes und des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland ist einer der zentralen Gedenktage in diesem Super-Gedenkjahr. "Dabei scheint die Rede von Gründungsmythen und kultureller Selbstvergewisserung den Blick auf die Gegenwart zu dominieren", konstatiert die Frankfurter Germanistin Prof. Susanne Komfort-Hein. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit den vielfältigen Dimensionen von Erinnerungskulturen und konzipiert zurzeit gemeinsam mit Prof. Heinz Drügh eine Vorlesungsreihe zu Jahrestagen, die im Wintersemester an der Goethe-Universität stattfinden wird.

    Dehnt sich dank einer "Memoria-Kultur" die Gegenwart "zu einer komplexen und zunehmend unübersichtlichen Dimension der Gleichzeitigkeiten" auf Kosten der Zukunft aus? So sieht es der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Literaturen". Dem hält Komfort-Hein entgegen, dass die "Memoria-Kultur" auch als Chance zur Selbstreflexion und zur kritischen Revision einer im Fortschrittsdenken vergessenen Vergangenheit zu betrachten sei. "Die Kultur des Erinnerns könnte auch eine Chance gegen Strategien der Musealisierung sein", so Komfort-Hein, und sie ergänzt: "Müssen wir nicht mithin besonders sorgfältig unseren Blick auf die sozial und politisch formierten Erinnerungsinteressen richten, welche die Inszenierungen periodischer Wiederkehr vergangener Ereignisse als Jahrestage prägen?"

    Diesen Aspekten von Gründungsmythen, Konstruktionen von geschichtlichen Zäsuren und Wendepunkten widmet sich die Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, die am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität lehrt, in ihrer kultur- und literaturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung. Sie verweist unter anderem auf die Paradoxien der deutschen Gedächtniskultur: "Mit dem Binom 'Weimar und Buchenwald' ist insofern eine erinnerungspolitische Zäsur gegeben." Dies beleuchtet Komfort-Hein mit einem Beitrag zu Goethe-Lektüren im Spiegel deutscher Geschichtszäsuren: Im Blick auf den Zeitraum zwischen 1871 und 1945 veranschaulicht sie, auf welche Weise das so wirkmächtige symbolische Identitätsversprechen im Konzept der deutschen Kulturnation sowie der Klassiker Goethe in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen deutscher Krisen- und Wendezeiten, in ihren politischen Gründungslegenden immer wieder neu erfunden und einem ideologischen Erbestreit ausgesetzt werden. Ihre Thesen trug sie während der überaus erfolgreichen ersten Frankfurter Goethe-Vorlesung des vergangenen Wintersemesters vor, bei der Frankfurter Germanistinnen und Germanisten aktuelle Perspektiven auf das Werk Goethes vorstellten.

    In ihrem gegenwärtigen Forschungsvorhaben thematisiert Komfort-Hein am Beispiel von Exil- und Migrationserzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts erinnerungskulturelle Aspekte der Literatur im Blickwinkel einer Poetik des Exils und der Migration sowie transkultureller und transnationaler Perspektiven. Zur Auswahl gehören u.a. die Texte der rumäniendeutschen Autorin Herta Müller, die der banatschwäbischen Minderheit Rumäniens entstammt und von der Securitate Ceau?escus verfolgt, 1987 in die alte Bundesrepublik ausreiste. Sie erzählen von der Erfahrung, auf mehrfache Weise heimatlos und fremd zu sein und eine Position einzunehmen, die sich keiner nationalen oder kulturellen Identität fügt. Zugleich verarbeiten sie als literarische Erinnerungsarbeit die Verstrickung in eine deutsche Schuld- und Tätergemeinschaft.

    Mit einer Studie zum Ursprungsmythos 1968 im Spannungsfeld von Geschichte, Philosophie und Literatur ("'Flaschenposten und kein Ende des Endes'. 1968: Kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur") habilitierte sich Komfort-Hein 2000 in Tübingen. Die Studie untersucht ein beispiellos mythisiertes Datum, das sich noch immer erfolgreich als historischer Ausnahmezustand und Wendepunkt zwischen 1945 und 1989 im kulturellen Gedächtnis behauptet. Weitere Publikationen zur Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart gelten den spezifischen Möglichkeiten literarischer Erinnerungspolitik, den geschichtsphilosophischen Perspektiven der modernen avantgardistischen Literatur, der Frage, wie literarische Texte politische Epochenumbrüche verarbeiten und reflektieren, sowie der literarischen Zeugenschaft des Holocaust, etwa in autobiographischen Erinnerungen Überlebender.

    Die gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Heinz Drügh vorbereitete zweite Frankfurter Goethe-Vorlesung wird sich im kommenden Wintersemester unter dem Titel "Jahrestage - von der Varusschlacht zur Agenda 2010" den einschlägigen Terminen der Jubiläenjahre 2009 und 2010 aus einer kultur- und literaturwissenschaftlichen Doppelperspektive widmen. Für diese Veranstaltung konnten namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Künstlerinnen und Künstler gewonnen werden, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln über das Gedenken an die Ereignisse reflektieren und der Frage nach dessen erinnerungskulturellen Gründen und Bedingungen nachgehen werden.

    Informationen: Prof. Dr. Susanne Komfort-Hein, Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Campus Westend, Tel. (069) 798-32857, Komfort-Hein@lingua.uni-frankfurt.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Politik, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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