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08.01.1998 00:00

Überfüllte Haftanstalten

Gabriele Rutzen Kommunikation und Marketing
Universität zu Köln

    2/98

    UEberfuellte Haftanstalten Wege zur sinnvollen Nutzung und Begrenzung der U-Haft-Kapazitaeten

    In der Vergangenheit wurden viele Modelle zur Begrenzung der Untersuchungshaft entwickelt. Kaum gefragt hat man jedoch die mit entsprechenden Faellen befassten Staatsanwaelte und Richter, wie sie die Moeglichkeiten beurteilen. Diese Luecke ist durch eine im Auftrag des nordrhein-westfaelischen Justizministeriums an der Kriminologischen Forschungsstelle der Universitaet Koeln von Professor Dr. Michael Walter und Dr. Helmut Geiter durchgefuehrte Studie geschlossen worden.

    Der starke Anstieg der Anordnungen von Untersuchungshaft in den letzten Jahren brachte die Zahl der Untersuchungshaeftlinge auf eine im Nachkriegsdeutschland zuvor nicht erreichte Rekordmarke. Diese Inhaftierungen tragen zur derzeitigen UEberfuellung der Gefaengnisse wesentlich bei. Obwohl es zu Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft entsprechend der diesem Institut gesetzlich beigelegten Funktion nur in strikten Ausnahmefaellen kommen sollte (rechtsstaatliche Unschuldsvermutung), halten die meisten Staatsanwaelte und Richter die gaengige Praxis der Haftanordnung fuer angemessen. Eine weitere Reduzierung der U-Haft ist ihrer Meinung nach kaum mehr moeglich. Die Entscheidungstraeger halten sich schon im Zeitpunkt der anstehenden Haftanordnung fuer in der Regel ausreichend ueber die Tat und den Beschuldigten informiert. Sie sehen deshalb keinen Handlungsbedarf, zusaetzlich einen sozialen Dienst in ihre Entscheidungsfindung einzubinden. Sie sind im Gegenteil sogar skeptisch gegenueber einer Beteiligung von Sozialarbeitern (im konkreten Fall: Gerichtshelfern) als Haftentscheidungshilfe. Ursaechlich dafuer seien festverwurzelte kriminalpolitische Grundeinstellungen der Juristen der Strafjustiz, etwa zur Verbrechensbekaempfung, Freiheitsstrafe, Untersuchungshaft und Sozialarbeit.

    Laut Studie, die u.a. auf 134 ausfuehrlichen Interviews mit Juristen und Sozialarbeitern in ganz Nordrhein-Westfalen sowie 175 eingehenden Aktenanalysen beruht, sind Staatsanwaelte und Haftrichter im Zeitpunkt der ersten Entscheidung ueber die Untersuchungshaft nicht hinreichend ueber den Beschuldigten informiert. Da sie meist ueber keine eigenen Erkenntnisse verfuegen, muessen sie ihre Entscheidung auf die Ermittlungsarbeit der Polizei stuetzen. Diese legt den Schwerpunkt ihrer Nachforschungen jedoch verstaendlicherweise zunaechst auf die Aufklaerung der Tat und kaum auf die Lebensumstaende des Beschuldigten. Bis zu drei Viertel der befragten Juristen empfinden allerdings Druck seitens der Polizei, einen Haftbefehl zu erlassen. Dementsprechend verweigerten sich die Staatsanwaelte nur aeusserst selten einer Haftbefehlsanregung der Polizei, und die Haftrichter lehnten von der Staatsanwaltschaft beantragte und meist nur floskelhaft mit Fluchtgefahr begruendete Haftbefehle in lediglich vier Prozent der untersuchten Faelle ab.

    Zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe wurden spaeter jedoch nur etwa zwei Fuenftel der von einem Haftbefehlsantrag der Anklagebehoerde Betroffenen verurteilt. Sogar in der Gruppe der in Untersuchungshaft genommenen Personen hielten Verurteilungen zu unbedingter Freiheitsstrafe von ueber einem Jahr nicht einmal einen haelftigen Anteil. Die Praxis der haeufig nur pauschalen Begruendung des Haftbefehls mit - wegen der Hoehe der zu erwartenden Strafe - anzunehmender Fluchtgefahr sei mithin, so die Koelner Rechtswissenschaftler, zu beanstanden. In vielen Faellen muesste es zudem moeglich sein, durch genauere Informationen, insbesondere ueber die Entwicklung und das soziale Umfeld des Beschuldigten, die Zahl der Untersuchungshaeftlinge - zumindest durch Einraeumung einer Haftverschonung - zu vermindern. Dieser Gewinn an Rechtsstaatlichkeit ginge vor allem nicht mit Sicherheitseinbussen einher. Vielmehr muessten die Ergebnisse der Untersuchung die Entscheidungstraeger nach Auffassung der Koelner Kriminologen zu haeufigeren U-Haft-Vermeidungen ermutigen koennen. Denn nicht einmal vier Prozent der trotz Erlass eines Haftbefehles nicht Eingesperrten haetten sich durch ihr anschliessendes Untertauchen (11,4 Prozent) der Verurteilung letztlich zu entziehen vermocht. Diese weitgehende Gewaehrleistung der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs lege es nahe, noch nicht rechtskraeftig Verurteilte, mithin nach der zwingenden gesetzlichen Regelung als unschuldig zu behandelnde Menschen, haeufiger aus der Untersuchungshaft herauszuhalten und damit zugleich Steuermittel aufgrund geringerer Haftplatzkapazitaeten einzusparen. Denn die Gruppe der in Untersuchungshaft genommenen Personen unterscheide sich von der nach einem Haftbefehlserlass auf freiem Fuss belassenen weder durch die Art der vorgeworfenen Straftaten noch die Anzahl und Schwere eventueller Vorstrafen noch das Ausmass der spaeteren Verurteilung. Als signifikanter Differenzierungsindikator habe sich hingegen eine ausgepraegtere soziale Randstaendigkeit der sofort Inhaftierten nachweisen lassen. Damit bekomme die Untersuchungshaft jedoch den Charakter einer Sanktion fuer die sozial Ausgegrenzten, der mit ihrer gesetzlich beabsichtigten Funktion (blosse Sicherung des Verfahrens und eventueller Strafvollstreckung) unvereinbar sei.

    Auch der von den juristischen Entscheidungsinstanzen ohnehin wenig akzeptierte Einsatz von Gerichtshelfern wuerde nach Einschaetzung der Forscher nicht zu einer drastischen Verminderung der Inhaftierungszahlen fuehren. Zum einen sei die Zahl der Gerichtshelfer fuer einen flaechendeckenden Einsatz in Nordrhein-Westfalen zu gering. Aufgrund der aktuellen Finanzlage duerfte sich daran in absehbarer Zeit kaum etwas aendern. Zum anderen verfuegten diese Sozialarbeiter haeufig nicht ueber derart intensive Kontakte zu den Beschuldigten und deren Umfeld wie etwa Streetworker zu ihren Klienten. Deshalb koennten sie die in einem knappen Zeitraum benoetigten Informationen kaum umfassend liefern. Bisherige Erfahrungen haetten denn auch eher einen Einsatz der Sozialarbeiter als Betreuer des Beschuldigten, denn als Haftvermeider gezeigt. Erprobt werden sollten hingegen praktische Hilfestellungen durch die Gerichtshilfe, wie den Nachweis oder die Beschaffung von Unterkunft.

    Die Koelner Rechtswissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass nur eine moeglichst praxisnahe Zusammenarbeit von Richtern, Staatsanwaelten und Sozialarbeitern, deren Wurzeln bereits in der Ausbildung dieser unterschiedlichen Berufsgruppen gelegt werden sollten, der geeignete Weg ist, die Untersuchungshaftzahlen spuerbar und dauerhaft zu verringern. Erforderlich sei eine breiter angelegte sozialwissenschaftliche Sensibilisierung der fuer die Haftentscheidung allein zustaendigen Juristen. Hierzu muesse noch reichlich Aufklaerungsarbeit auf allen Ebenen geleistet werden.

    Verantwortlich: Dr. Wolfgang Mathias

    Fuer Rueckfragen steht Ihnen Professor Dr. Michael Walter unter der Telefonnummer 0221/470-4281 und der Fax-Nummer 0221/470-5147 zur Verfuegung. Unsere Presseinformationen finden Sie auch im World Wide Web (http://www.uni-koeln.de/organe/presse/pi/index.htm).

    Fuer die UEbersendung eines Belegexemplares waeren wir Ihnen dankbar.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Es wurden keine Arten angegeben
    Deutsch


     

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