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25.10.2001 09:54

Die orthodoxe Kirche und die Nationsbildung in der Ukraine

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Dissertation am Osteuropa-Institut der Freien Universität.

    Seit ihrer Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1991 ist die Ukraine der flächengrößte Staat Europas. Dennoch ist das Wissen über die ukrainische Nation und ihre Geschichte hierzulande mehr als spärlich - nicht zuletzt deshalb, weil die Ukraine in der Berichterstattung der Massenmedien so gut wie keine Rolle spielt. Licht in das Dunkel bringt nun eine Dissertation, die derzeit am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin entsteht. Darin geht die Historikerin Ricarda Vulpius der Frage nach, wie die ukrainische Nation entstand und welche Rolle die Kirche in diesem Prozess spielte.

    Die moderne Nationsbildung der Ukraine vollzog sich erst sehr spät, am Ende des 19. Jahrhunderts. Hierfür gab es verschiedene Ursachen: Zunächst einmal besaßen die Ukrainer kein gemeinsames Territorium. Seit der Teilung Polens im Jahre 1772 gehörte der östliche und weitaus größere Teil der heutigen Ukraine (die Dnjepr-Ukraine) zu Russland, der westliche Teil (die galizische Ukraine) zu Österreich-Ungarn. Das Russische Reich verhielt sich gegenüber den Ukrainern überaus restriktiv: Nicht nur der Name Ukraine wurde im 19. Jahrhundert aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt, auch die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Sprache wurde geleugnet. Dem russischen Nationalverständnis zufolge bildeten die als "Kleinrussen" bezeichneten Ukrainer einen Teil der gesamtrussischen Nation. Der Nationsbildung in der Ukraine standen aber nicht nur äußere Faktoren entgegen: Auch die konfessionelle Gemeinsamkeit mit der dominanten russischen Nation sowie die verhältnismäßig geringen kulturellen Unterschiede erschwerten die Entstehung eines ukrainischen Nationalbewusstseins.

    In ihrer Arbeit untersucht Ricarda Vulpius, welchen Einfluss die orthodoxe Kirche auf die ukrainische Nationsbildung hatte. Wie in ganz Europa kam der Geistlichkeit auch bei der Entwicklung eines Nationalbewusstseins in der Ukraine eine zentrale Rolle zu. Zum einen nahm sie als Träger der Bildung eine Mittlerrolle zwischen den Herrschenden und dem Volk ein, zum anderen verfügte sie über eine das ganze Land umfassende Infrastruktur. Anders als bisher von der Forschung angenommen, war die orthodoxe Geistlichkeit in der Dnjepr-Ukraine im 19. Jahrhundert offenbar nicht vollkommen "russifiziert", sondern in verschiedene Lager gespalten: Neben dem dominanten russophilen Flügel gab es auch einen ukrainophilen Flügel sowie ein drittes Lager, das eine starke regionale, ukrainische Identität mit einer nationalen russischen Identität vereinen wollte.

    Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer eigenständigen ukrainischen Nation war (ebenso wie bei allen anderen christlichen Völkern) die erste Bibelübersetzung in die Umgangssprache im Jahre 1861. Die Zarenregierung erkannte die Bedeutung dieses Aktes und untersagte den Druck der ukrainischen Bibel umgehend. Zwei Jahre später wurden sämtliche ukrainischsprachige Schriften mit Ausnahme der schönen Literatur verboten, auch der Unterricht in ukrainischer Sprache wurde untersagt. Seitdem zählte die (Wieder-)Zulassung der ukrainischen Sprache in Schrift und Predigt zu den zentralen Forderungen der ukrainophilen Geistlichkeit.

    Unter den Bedingungen des Zarenreiches, in dem die Kirche nach weltlich-bürokratischen Regeln verwaltet wurde und ein Machtapparat in den Händen der Regierung war, hatten die ukrainophilen Geistlichen es schwer, ihre Ideen zu verbreiten. Ricarda Vulpius untersucht die Möglichkeiten und Grenzen ukrainophiler Ausdrucksformen auf drei verschiedenen Kommunikationsebenen: der der massenmedialen Öffentlichkeit, der der Versammlungsöffentlichkeit und der der informellen Kommunikation.

    Auf der Ebene der massenmedialen Öffentlichkeit analysiert sie die Anfang der 1860er Jahre von den Geistlichen Konsistorien eingeführten Kirchenzeitschriften (Eparchial'nye Vedeomosti), die ein "Organ der moralischen Vereinigung der Geistlichkeit", ein Spiegel ihrer Bedürfnisse und ein Dienst für die Volksbildung sein sollten. Trotz der Zensur, deren Schärfe von der allgemeinen politischen Lage abhing, kam es hierin vereinzelt zu kritischen Äußerungen oder zu solchen mit kleinrussisch-lokalpatriotischer Färbung. Offen ukrainophile Töne konnten jedoch nur in den revolutionären Phasen 1904-1907 und 1916/1917 angeschlagen werden. Ähnlich verhielt es sich mit den innerkirchlichen öffentlichen Versammlungen: Zwar fanden solche seit den 1860er Jahren gelegentlich statt, doch gelang es reformwilligen Geistlichen erst nach der Revolution von 1905, ihre Forderung nach regelmäßigen Pastorenversammlungen durchzusetzen. Die ab 1907 einsetzende Reaktion verhinderte dann erneut jede Diskussion von Themen, die nicht unmittelbar mit der priesterlichen Tätigkeit zusammenhingen oder von der Regierung unerwünscht waren. Auf der Ebene der informellen Kommunikation existierten national-ukrainisch orientierte geheime Zirkel unter den Studenten der Priesterseminare. Sie entstanden zu verschiedenen Zeitpunkten in fast allen Geistlichen Seminaren Kleinrusslands und existierten so lange, bis sie von der Polizei aufgedeckt wurden und ihre Mitglieder verbannt oder unter Hausarrest gestellt wurden.

    Die Hochburg der ukrainophilen Geistlichkeit in der Dnjepr-Ukraine war die Region Podolien. Hier wurde im revolutionären Zeitraum 1904 bis 1907 nicht nur ein Lehrbuch für den Unterricht in ukrainischer Sprache erstellt, sogar das Neue Testament wurde in ukrainischer Sprache gedruckt und veröffentlicht. In den neun Monaten bis zum erneuten Druckverbot wurde die ukrainische Bibel fünf Mal neu aufgelegt, 85.000 Exemplare wurden verkauft.

    Der Durchbruch gelang der ukrainischen Nationalbewegung jedoch erst nach der Russischen Revolution von 1917. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs wurde binnen weniger Wochen die Forderung nach kirchlicher und politischer Unabhängigkeit erhoben. Auf politischer Ebene wurde diese 1918, auf kirchlicher Ebene mit der Gründung der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche im Jahre 1921 erreicht. Dies belegt einerseits, dass der Entwurf einer kollektiven ukrainischen Identität das Sprachverbot und die sonstigen Restriktionen hatte überdauern können, andererseits aber auch, dass die ukrainische Geistlichkeit nicht aus sich heraus zu einer Mobilisierung der Massen in der Lage war. Es bedurfte erst eines äußeren Anstoßes, um eine entscheidende Veränderung im Kräftemessen der nationalen Lager herbeizuführen.

    von Thorsten Lichtblau

    Literatur:
    Vulpius, Ricarda: "Ukrainische Nation und zwei Konfessionen. Der Klerus und die ukrainische Frage 1861-1921", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2001), S. 240-256.

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
    Ricarda Vulpius, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Garystr. 55, 14195 Berlin, Tel.: 030/838-52066, E-Mail: vulpius@zedat.fu-berlin.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Politik, Recht, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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