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07.08.1998 00:00

Leben am Rand des Reichs der Mitte: Vom Wandel im Kun Lun Shan

Dr.rer.pol. Dipl.-Kfm. Ragnwolf Knorr Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Um die 5.000 Kilometer von Chinas Hauptstadt entfernt leben türkisch- und chinesischsprachige Volksgruppen im Ojtagh-Gebiet (Kun Lun Shan) zusammen, das heute ein abgelegener Teil des riesigen "Reichs der Mitte" ist, früher aber eher nach Süden und Westen als in östlicher Richtung orientiert war. Erst vor 50 Jahren traten die Veränderungen ein, die die derzeitige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität formten. In einer Feldstudie erkunden Prof. Dr. Hermann Kreutzmann und Dr. Michael Friederich vom Lehrstuhl für Geographie III der Universität Erlangen-Nürnberg, wie sich der Wandel der Lebensbedingungen seither ausgewirkt hat und wie die Bevölkerung von Ojtagh damit zurechtkommt. Die DFG hat das Forschungsvorhaben für zunächst zwei Jahre genehmigt.

    Die Autonome Ujghurische Provinz Xinjiang (gesprochen: Schindschang) liegt im äußersten Nordwesten Chinas. Mit einer Fläche von ca. 1,66 Millionen km2 ist sie die größte administrative Einheit der Volksrepublik. Xinjiang grenzt im Nordosten an die Mongolei, im Westen an Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, und im Süden an Pakistan und Tibet. Im Osten Xinjiangs liegt die chinesische Provinz Gansu.

    Die Bevölkerung der Provinz ist multinational: knapp über 50 Prozent der ungefähr 17 Millionen Bewohner sind Angehörige türkischer Völker wie Ujghuren (7 Mio.), Kasachen (1 Mio.) und Kirgisen (170.000). Han-Chinesen, die die ganz überwiegende Bevölkerungsmehrheit in der VR China stellen, haben in Xinjiang inzwischen mit den Ujghuren zahlenmäßig etwa gleichgezogen. Neben diesen größeren Nationalitäten gibt es noch Tunganen (chinesische Muslime) und, im Norden der Provinz, Mongolen, Tuwiner, Schiwä und Daghuren.

    Von Peking bis nach Ürümtschi, dem neuen politischen und wirtschaftlichen Zentrum Xinjiangs, sind etwa 3.500 km nach Westen zurückzulegen. Kaschgar, das traditionelle Zentrum im Südwesten der Provinz, liegt noch einmal 1.600 km weiter westlich. Innerhalb der VR China kann die Region Kaschgar somit zu Recht als "Peripherie" bezeichnet werden. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Oasenstadt Kaschgar jedoch ein bedeutender Handels- und Wirtschaftsstandort, dessen Aktivitäten allerdings nicht vornehmlich nach Osten, nach Ürümtschi und Peking, ausgerichtet waren, sondern nach Westen, nach Buchara und Samarkand, und nach Süden, nach Kaschmir und Lahore. In diesem internationalen Netzwerk war Kaschgar keineswegs Peripherie, sondern eines der wichtigen Zentren.

    Das Gebiet von Ojtagh, das in dem Forschungsprojekt untersucht wird, ist einerseits Bestandteil der Wirtschaftsregion Kaschgar, andererseits aber auch auf Grund seiner Lage abseits der großen Handelsstraßen eine in sich geschlossene naturräumliche und gesellschaftliche Einheit. Die dortige Bevölkerung besteht aus Ujghuren, Kirgisen, Tadschiken und Han-Chinesen.

    Spiegelbild Mittelasiens

    In dem Projekt soll untersucht werden, ob und wie sich ändernde politische Rahmenbedingungen das wirtschaftliche und soziale Leben der Menschen in Ojtagh verändert haben und wie die lokale Bevölkerung zu diesem Wandel stand und steht. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei von der Zeit vor der Gründung der VR China, 1949, bis in die unmittelbare Gegenwart.

    Die Beschränkung der Untersuchung auf das Ojtagh-Gebiet ist sinnvoll, da sie die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung gar nicht erst aufkommen läßt und dabei dennoch, durch die Existenz verschiedener ethnischer Gruppierungen mit ihren unterschiedlichen Wirtschaftweisen und kulturellen Traditionen im Untersuchungsgebiet, einen Rahmen bietet, innerhalb dessen eine "multi-" und "internationale" Darstellung nicht nur möglich, sondern vielmehr gefordert ist. Und damit kommt das Gebiet Ojtagh einer Realität sehr nahe, die über lange Jahrhunderte die Geschichte und das Gesicht ganz Mittelasiens geprägt hat.

    Sozialwissenschaftliche, kulturgeschichtliche und kulturgeographische Arbeiten zu Xinjiang und seiner aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten Bevölkerung fehlen fast vollständig. Dieser Mangel ist nicht nur in der westlichen Forschung, sondern auch in der der VR China festzustellen. Dennoch sind die Rahmenbedingungen für die Feldstudie in Ojtagh als gut einzuschätzen: Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Hermann Kreutzmann, beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit kulturgeographischen Fragestellungen in den Hochgebirgsregionen Afghanistans, Pakistans und Chinas. Sowohl die regionale als auch die thematische Aufarbeitung relevanter Literatur ist durch ihn bereits erfolgt. Über Xinjiang hat er schwerpunktmäßig Themen zu weidewirtschaftlichen Problemen und mit minoritätenspezifischer Ausrichtung bearbeitet. Prof. Kreutzmann kann auf eigene Felderfahrungen im Rahmen deutsch-chinesischer Zusammenarbeit im Jahre 1991 zurückgreifen und bereits bestehende Kontakte im Autonomen Bezirk der Kirgisen Kizil Su, zu dem Ojtagh gehört, nutzen.

    Der wissenschaftliche Mitarbeiter, Dr. Michael Friederich, hat Turkologie, Iranistik und Islamwissenschaft studiert. Er blickt auf eine mehr als zweijährige Studienerfahrung an der Xinjiang-Universität in Ürümtschi zurück und ist deshalb mit Sprache und Kultur der Ujghuren nicht nur theoretisch vertraut. Dr. Friederich hat Beiträge zur modernen ujghurischen Literatur und zur jüngeren Geschichte und Gegenwart der Ujghuren Xinjiangs veröffentlicht.

    Gesetze und Interessen

    Grundlegend für die Untersuchung der wirtschaftlichen Veränderungen, die sich innerhalb des genannten Zeitraums im Gebiet Ojtagh vollzogen haben, wird die Erfassung des (früher und heute vorhandenen) Wirtschaftspotentials (Wälder, Naturweiden, Viehbestände, tierische Produkte und ihre Vermarktung, Landwirtschaft) sein. Damit können das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Macht und Gesetzgebung einerseits und den Interessen der lokalen Bevölkerung hinsichtlich wirtschaftlicher Mobilität, sozialer Organisation und interlokalen Beziehungen andererseits dokumentiert, und somit die Bedingungen für eine zukünftige nachhaltige Entwicklungsstrategie im Rahmen chinesischer Deregulierungsansätze ausgelotet werden.

    Das Gerüst der empirischen Daten zur wirtschaftlichen Situation und deren Veränderungen wird mit den (persönlichen) Wertungen derselben durch die lokale Bevölkerung ergänzt und angefüllt. Zu diesem Zweck wird als erstes eine dia- und synchrone Bevölkerungsübersicht erstellt werden, in der die verschiedenen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten, die in dem Untersuchungsgebiet lebten und leben, vermerkt sind. In offenen Interviews mit Vertretern möglichst aller repräsentierter Gruppen und Schichten soll deren Einschätzung hinsichtlich der eigenen Situation in der Vergangenheit und der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die bis in die Gegenwart andauern, erfragt werden.

    Rückgriff auf Erinnerungen

    Da es so gut wie kein schriftliches Material gibt, das die Zeit unmittelbar vor und nach der Gründung der VR China nicht ideologisierend darstellt, wird es von besonderem Interesse und großer Wichtigkeit sein, alte Menschen, die sich an diese Zeit noch erinnern, als Informanten und Gesprächspartner zu gewinnen. Die aus den Interviews gewonnenen Informationen werden, soweit möglich, durch schriftliches Archivmaterial ergänzt, verifiziert und gegebenenfalls relativiert.

    Außer der Erlanger Arbeitsgruppe werden noch zwei weitere deutsche Arbeitsgruppen sowie chinesische Wissenschaftler vor Ort sein und ihre Forschungen durchführen. Auf deutscher Seite sind dies Prof. Dr. Georg Miehe, Vegetationsgeograph an der Universität Marburg, und sein Mitarbeiter Ubbo Wündisch, sowie Prof. Dr. Clas Naumann, Zoologe am Zoologischen Forschungsinstitut und Direktor des Museums Alexander Koenig in Bonn, und sein Mitarbeiter Markus Stüben. Auf chinesischer Seite sind vor allem die Professoren Zhang Baiping und Zhang Yili, beide Geographen an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking, zu nennen.

    Die DFG finanziert die Anstellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters für zwei Jahre und stellt darüber hinaus Sachmittel zur Verfügung. Die Reisekosten für die zwei vorgesehenen Forschungsaufenthalte in Ojtagh werden im Rahmen eines Abkommens mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften von der Max-Planck-Gesellschaft übernommen.

    * Kontakt:
    Prof. Dr. Hermann Kreutzmann, Lehrstuhl für Geographie III, Kochstraße 4, 91054 Erlangen,
    Tel.: 09131/85 -2639, Fax 09131/85 -2013, E-mail: hkreutzm@geographie. uni-erlangen.de


    Weitere Informationen:

    http://www.uni-erlangen.de/docs/FAU/fakultaet/natIII/geographie/krz-homd.html


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geowissenschaften
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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