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02.04.2003 14:29

"Immer wenn ich diese Melodie höre, denke ich an meinen ersten Kuss"

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Musikerfahrungen im Leben alter Menschen

    Musik hilft, Identität zu schaffen. Jede Generation von Jugendlichen grenzt sich durch ihre Musik von Erwachsenen ab. Anscheinend prägen sich Musikerfahrungen aus der Jugendzeit so tief ein, dass sie auch im hohen Alter an lebhafte Erinnerungen gekoppelt sind. Die Soziologin Dorothea Muthesius ließ im Rahmen ihrer Dissertation an der Freien Universität Berlin 142 alte Menschen über ihre Musikerfahrungen erzählen. Sie unterstreicht die Möglichkeiten, die Musik und Musiktherapie in der Arbeit mit altersdementen Patienten bieten: Betreuer können darüber einen Zugang zu ihnen finden und Erinnerungen aktivieren, auch wenn sonst mit ihnen kein Kontakt mehr aufgenommen werden kann.

    Musik begleitet die Biographie nahezu aller Menschen und erfüllt dabei eine Doppelfunktion. Zum einen funktioniert sie als verbindendes soziales Element, zum anderen trägt der Musikgeschmack dazu bei, zu individualisieren und die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen. Dies tut sie in den prägenden Entwicklungsphasen eines Lebens, nämlich in der Kindheit und Jugend. Im hohen Alter scheinen nur noch die musikalischen Erinnerungen aus der Jugendzeit eine Rolle in den Erzählungen zu spielen. Spätestens im jungen Erwachsenenalter oder wenn eine Familie gegründet wird verliert die Musik ihre Funktion als Mittel zur Selbstfindung und sozialen Selbstverortung.

    Dorothea Muthesius konnte darüber hinaus geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen in der Art, wie Frauen und Männer in ihrer jugendlichen Entwicklungsphase die Musik nutzten, um sich zu definieren. Frauen betonten die Individualität und Eigenständigkeit ihrer Entwicklung und versuchten, mit Musik ihre persönliche Gefühlswelt zu beleben. Männer hingegen suchten Anschluss an bestehende Strukturen und wandten sich tendenziell eher an traditionelle Musik, die in der Gemeinschaft erlebt wird.

    In der Erinnerung hat die Musik deswegen einen besonderen Stellenwert, weil sie hilft, die Erinnerung an vergangene, vor allem schöne Erlebnisse mit nahe stehenden Menschen zu erhalten. So wird in den Erzählungen die Erinnerung an die erste Liebe oder an die inzwischen verstorbenen Eltern mit einer Melodie in Verbindung gebracht. Vor allem das gemeinsame Erleben der Musik bleibt dabei in vordergründiger Erinnerung. Das Erleben von Musik hat sich in den letzten Generationen stark gewandelt. Musik ist zu einem weit verbreiteten Konsumgut geworden, dessen ritualisierte Rezeption schwindet bzw. sich ändert. Der technische Fortschritt hat den Schwerpunkt des Musikerlebnisses von der unmittelbaren Rezeption, etwa durch Hausmusik oder Musikkapellen, zur Rezeption durch Medien wie zum Beispiel dem Radio oder CDs verschoben.

    In den Erzählungen in der Dissertation von Dorothea Muthesius halten Radio und Grammophon zum ersten Mal Einzug in die Familien. Die Geräte waren selten und teuer und die Musik, die man mit ihnen hörte, war kostbar. Man hörte sie mit Lust und Konzentration. Eine Frau, 1920 geboren, erinnert sich: "Nur sonntags wurde Grammophon gespielt, vom Vater bedient. Er trug dazu eine Samtweste. Für mich wirkte es festlich. Aufmerksam lauschte ich der Musik."

    Da generell emotionale Fähigkeiten länger erhalten bleiben als kognitive und Musik mit ihnen verknüpft ist, kann durch sie ein Zugang zu den Gefühlswelten alter Menschen gefunden werden. Deshalb sollte Musiktherapie in Form von gemeinsamem Musizieren oder Singen ihren angemessen Stellenwert in der Altenhilfe finden.

    von Gesche Westphal

    Literatur:
    Dorothea Muthesius, Musikerfahrungen im Lebenslauf alter Menschen: eine Metaphorik sozialer Selbstverortung (Soziologie, Band 37), Münster/Hamburg/London: Litverlag, 2002, ISBN 3-8258-6403-0

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dorothea Muthesius, Kleiststr. 35, 10787 Berlin, Tel.: 030 / 211 96 45, E-Mail: dorothea.muthesius@berlin.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Kunst / Design, Musik / Theater, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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