idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
25.04.2003 16:14

Der Contergan-Wirkstoff wird zum Hoffnungsträger

Dr. Bärbel Adams Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Wissenschaftler der Universität Leipzig wirken mit an der Erforschung des Wirkstoffes ThalidomidContergan. Wer den Namen dieses Medikaments hört, erinnert sich an Bilder von Kindern mit verkümmerten Armen und Beinen.

    Doch der Wirkstoff des Schlafmittels Contergan, das Thalidomid, fiel bei Medizinern und Pharmazeuten nur vorübergehend in Ungnade. Auch Forscher der Universität Leipzig sind daran beteiligt, die positiven Potenzen dieses Wirkstoffes zu erhalten und die negativen zu eliminieren. Auskunft zu gelösten Rätseln und offenen Fragen gibt Prof. Dr. Kurt Eger, Professor für Pharmazeutische Chemie der Universität Leipzig.

    Vor rund 40 Jahren wurden in der damaligen Bundesrepublik 2.500 Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan genommen hatten, mit Missbildungen geboren. Etwa 10.000 waren es weltweit. Die Betroffenen - sofern sie noch am Leben sind - leiden mehr denn je. Und dennoch hat das Thalidomid bei Experten nichts von seiner Faszination eingebüßt. Worauf basiert dieses Interesse an einer offenbar unheilvollen Substanz?

    Prof. Eger: Lassen Sie mich von einem Zufall erzählen, der sich 1964 in einer Lepra-Krankenstation in Jerusalem abspielte: Contergan und mit ihm auch Thalidomid waren 1961 vom Markt genommen worden. Aber der dortige Arzt sah keinen anderen Weg einem von wahnsinnigen Schmerzen gequälten Patienten zu etwas Schlaf zu verhelfen, als ihm von einem Restbestand Contergan ein paar Tabletten zu verabreichen. Der Patient fand nicht nur Schlaf, sondern erfuhr Besserung. Zwar war damit nicht die Infektion beseitigt, aber die Immunreaktion des Körpers, die zu Erblindung, Gewebsentartung und Abfall von Extremitäten führt, konnte gestoppt werden. Das war der Auftakt für eine Neubetrachtung des geächteten Thalidomid. Seitdem wird es unter Kontrolle der WHO kostenlos an Lepra-Patienten abgegeben und geriet später wegen weiterer spektakulärer Heilerfolge zuweilen in den Ruf eine "Wunderdroge" zu sein.

    Was ist es, was einerseits Leben rettet und andererseits zerstört? Was weiß man über die Wirkweise von Thalidomid?

    Prof. Eger: Sehr viel und doch zu wenig. Erwiesen ist, dass es die Neubildung von Blutgefäßen stört. Daraus resultieren möglicherweise die berüchtigten Missbildungen bei Ungeborenen. Der gesunde Erwachsene, mal abgesehen von Wundheilungsprozessen, hat aber das Blutgefäßwachstum abgeschlossen. Neubildungen sind bei ihm also krankhaft. Eine Einsatzmöglichkeit ist deshalb die Krebstherapie, bei der ja das Wachstum von entartetem Gewebe durch Unterbindung der Blutgefäßneubildung, welches der Tumor zur Nährstoffbildung braucht, verhindert werden soll. Durch Herunterregulation einer überschießenden Immunreaktion kann Thalidomid bei Aids-Patienten der Geschwürbildung im Mund- und Rachenraum entgegenwirken. Gute Erfahrungen gibt es auch bei Abstoßungsreaktionen nach Knochenmarktransplantationen und bei einer Reihe entzündlicher Hauterkrankungen.

    Das heißt doch aber, dass dieser mitunter lebensrettende Wirkstoff allen Frauen im gebärfähigen Alter vorenthalten bleiben muss.

    Prof. Eger: Theoretisch ja, sofern bei derartig lebensbedrohenden Krankheiten eine Schwangerschaft überhaupt in Betracht gezogen wird. In den USA, wo Thalidomid als Arzneistoff bereits neu zugelassen ist, erfolgt die Abgabe nach einem strengen Kontrollverfahren, in welches Ärzte, Apotheker und die Patienten mit ihren jeweiligen Lebenspartnern einbezogen sind. Der Einsatz des Thalidomids findet weltweit vor allem in der Krebstherapie im Rahmen klinischer Studien statt. Deshalb sind wir ja gezwungen, die Forschungen am Wirkstoff schnellstens voranzutreiben und die möglichen negativen Auswirkungen auszuschalten.

    Was genau wird an der Universität Leipzig dazu beigetragen?

    Prof. Eger: Wir forschen derzeit intensiv daran, die Molekülstruktur von Thalidomid so zu verändern, dass es auch weiterhin das Blutgefäßwachstum blockiert, ohne die Embryonalentwicklung zu stören. Dazu muss man herausbekommen, welches Molekülteil das fruchtschädigende ist. Bisher funktionieren aussagestarke Tests nur an einer Affenart. Aber es ist, mal abgesehen von den Kosten, ethisch nicht zu vertreten, eine Vielzahl von Substanzen an diesem Modell zu testen. Prof. Dingermann aus Frankfurt/Main entwickelte mit seiner Arbeitsgruppe ein Testmodell, bei dem eine Schleimpilzkolonie die Funktion des Lebewesens übernimmt. Wir in Leipzig haben das Modell übernommen und zusammen mit Prof. Schlegel und Prof. Hauschildt aus der Zoologie hier etabliert und können nun chemisch veränderte Thalidomidmoleküle direkt an diesen und anderen Modellen testen.

    Wie sicher können Verbraucher heutzutage sein, dass ihm die Pharmaindustrie kein neues Contergan beschert?

    Prof. Eger: Eine hundertprozentige Sicherheit ist nicht möglich. Aber Wissenschaft und Gesellschaft insgesamt haben gelernt. Die Contergan-Katastrophe stellte eine Zäsur dar. Vorher musste beispielsweise in der Bundesrepublik das In-Verkehr-Bringen von Arzneimitteln lediglich angezeigt werden. Seit 1976 unterliegt die Zulassung neuer Arzneimittel weltweit strengen Regelungen. Von der Synthese des Thalidomids 1954 bis zu seiner Markteinführung vergingen keine drei Jahre. Heute braucht ein Medikament zehn bis zwölf Jahre, ehe es in die Hände des Patienten gelangt. Die meiste Zeit vergeht mit der pharmakologischen Prüfung neuer Arzneistoffe, erst in Zellkulturen, dann in Tierversuchen, dann an gesunden, männlichen Probanden und erst zum Schluss an kranken Patienten. Ein neues Medikament unterliegt bei seiner Markteinführung immer der Rezeptpflicht und kann nach einem gewissen Beobachtungszeitraum daraus entlassen werden. Aber erst bei der Anwendung an großen Patientenzahlen lassen sich dann auch seltene Nebenwirkungen entdecken, und das ist leider manchmal erst sehr spät der Fall.

    mit Prof. Eger sprach Marlis Heinz)

    weitere Informationen:
    Prof. Dr. Kurt Eger
    Tel.: 0341 - 97 36700
    E-Mail: eger@rz.uni-leipzig.de


    Bilder

    Prof. Eger
    Prof. Eger

    None


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).