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08.07.2003 15:27

Freisein durch Todsein - Soziologe untersucht den Selbstmord als eine Geste des illegitimen Todes

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Alle 45 Minuten wählt ein Mensch hierzulande den Freitod, alle vier Minuten versucht ein Deutscher zu sterben. Tatsachen, die meist vergessen oder verschwiegen werden. Der Soziologe Jörn Ahrens befasst sich in seiner an der Freien Universität Berlin entstandenen Dissertation "Selbstmord. Die Geste des illegitimen Todes" mit dem Selbstmord aus dem Blickwinkel einer Vergesellschaftung des Todes. Speziell mit den religiösen Deutungselemente des Selbstmords. In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage, wie Gesellschaft mit dem Phänomen des Selbstmords umgeht, welcher Stellenwert diesem bei der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung zukommt. Welche Art von "Freiheit" bedeutet es, über das eigene Lebensende zu entscheiden? Findet sich eventuell gerade im Selbstmord das zentrale Sinnbild einer radikalen Individualisierung, wie sie im Anschluss an Aufklärung, Säkularisierung und Rationalität denkbar ist?

    Im Jahr 2001 nahmen sich in Deutschland nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes rund 11.000 Menschen das Leben. In den westlichen Kulturen wird der Selbstmord oft als Flucht vor dem Leben bezeichnet. Die christliche Kirche sanktioniert sowohl den Täter als auch die Hinterbliebenen, indem sie dem Selbstmörder die rituelle Beerdigung und damit auch die letzte Ruhe verweigert. In der Logik des Monotheismus stellt sich der Selbstmörder gegen Gott und muss deshalb bestraft werden. Der Selbstmörder stellt sich als Handelnder außerhalb der Legitimation einer göttlich sanktionierten Ordnung und beendet sein Leben nach eigenem Gutdünken, obwohl gerade die Todesgabe als Privileg der obersten Autoriät, also Gottes, gilt.

    Der französische Ethnologe und Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) erkennt im Selbstmord ein Symptom der Anomie innerhalb der modernen Gesellschaft - also eines nicht mehr an Normen orientierten Handelns. Er wertet darüber hinaus die Selbstmordrate als Gradmesser für den Niedergang einer Kultur. In dieser Tradition wird der Freitod heute, etwa bei Klaus Feldmann, bestenfalls als "eine Problemlösung des psychisch Sterbenden" aufgefasst. Im wesentlichen werde der Selbstmord laut Ahrens stets von der Gesellschaft her betrachtet, die "ihn normativ umschließt und über ihn einen Diskurs der Verwerfung führt".

    In den christlich geprägten Gesellschaften sucht man vergebens nach einer allgemein akzeptierten Legitimierung des Freitods. Denn im Selbstmord emanzipiert sich der Ausführende sowohl gegenüber dem Tod als auch gegenüber den Normen der Gesellschaft. Beides steht nach Ahrens in einem unmittelbaren Zusammenhang. Der Selbstmörder gewinnt so eine letzte Freiheit als vollendete Autonomie (Selbstgesetzgebung).

    Jörn Ahrens pointiert den Selbstmord als Überwindungstat. Er sieht den Auslöser in einer zweifachen Angst. Jener vor der Unbestimmtheit des "natürlichen" Todes, die überwunden wird durch die eigenmächtige Tat des Individuums und der Angst vor der fremden Welt, und dem ihr immanenten Zwang, weiterleben zu müssen. So ist der Selbstmord schließlich für sein Individuum durchaus als Erlösung zu sehen, während der für die Gesellschaft, die er aufstört, einen Akt der Revolte bedeutet. Ahrens sagt dazu: "Der Selbstmord ist die permanente Negation" - nämlich als Negation einer gesellschaftlichen Ordnungsstruktur, die sich maßgeblich über das Element der Angst vor dem Tod durchsetzt sowie durch die Überzeugung davon, es gebe der Gesellschaft gegenüber eine Pflicht, sinnvoll und produktiv zu leben.

    Der Selbstmord entzieht sich so den vorherrschenden moralischen Kategorien. Dennoch geht von ihm auf einer symbolischen Deutungsebene für das Individuum keine weitere Befreiung aus, als nicht mehr leben zu müssen.

    Von Florian Hertel

    Literatur:
    Jörn Ahrens, Selbstmord. Die Geste des illegitimen Todes, München: Wilhelm Fink, 2001, ISBN 3-7705-3550-2, 35,00 Euro

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Jörn Ahrens, E-Mail: joern.ahrens@debitel.net


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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