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Ein Forschungsteam aus Köln, Heidelberg und Straßburg hat erstmals wichtige Merkmale komplexer Systeme im Labor beobachtet / Forschungen könnten zur Weiterentwicklung der Quantentechnologie beitragen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben erstmals das Konzept der sogenannten „selbstorganisierten Kritikalität“ experimentell in einem Quantensystem beobachtet. Das Konzept besagt, dass komplexe Systeme im Nichtgleichgewicht dazu neigen, sich von selbst in einen kritischen Zustand fernab von einem stabilen Gleichgewicht zu entwickeln – sie verstärken also ihr eigenes Nichtgleichgewicht. So können auf den ersten Blick so unterschiedliche Systeme wie die Verbreitung von Informationen in sozialen Netzwerken oder die Ausbreitung von Feuer oder Krankheit ähnliche Eigenschaften haben. Ein Beispiel ist ein lawinenartiges Verhalten, das sich selbst verstärkt anstatt zum Erliegen zu kommen. Diese komplexen Systeme sind unter kontrollierten experimentellen Bedingungen allerdings nur sehr schwer zu untersuchen. Erstmals ist es Forschern und Forscherinnen des Europäischen Zentrums für Quantenwissenschaften (CESQ) in Straßburg in Zusammenarbeit mit Forschern der Universitäten Köln und Heidelberg sowie des California Institute of Technology gelungen, die wichtigsten Merkmale der selbstorganisierten Kritikalität experimentell quantitativ zu charakterisieren – insbesondere das universelle Lawinenverhalten. Die aktuelle Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Das Team arbeitete mit einem Gas aus Kaliumatomen, das sie bei sehr niedrigen Temperaturen, nahe dem absoluten Nullpunkt, präparierten. „In diesem Zustand ist das Gas leichter zu kontrollieren und damit geeignet, die fundamentalen Quanteneigenschaften von Atomen zu untersuchen“, sagt Professor Shannon Whitlock vom Institut für Supramolekulare Wissenschaft und Technik der Universität Straßburg.
Indem Gasatome mit Hilfe von Lasern angeregt wurden, konnte das Team die Wechselwirkungen zwischen diesen Atomen beeinflussen. „Wenn sie angeregt werden, können die Atome entweder neue sekundäre Anregungen erzeugen oder sich spontan entladen“, erklärt Tobias Wintermantel, Doktorand im Team von Whitlock. In diesem Fall jedoch beeinflusste es die Entwicklung des Gases in einer Weise, die die Forscher faszinierte.
Wenn der Laser eingeschaltet wurde, entwichen viele Atome anfänglich besonders schnell. Ihre verbleibende Anzahl im Gas stabilisierte sich daraufhin jedoch immer auf dem gleichen Wert. Eine weitere Beobachtung: Die Anzahl der verbleibenden Partikel hing von der Intensität des Lasers über ein Schwellenwertverhalten ab. „Durch den Vergleich unserer experimentellen Ergebnisse mit einem theoretischen Modell konnten wir feststellen, dass diese beiden Effekte den gleichen Ursprung haben“, sagt der theoretische Physiker Professor Sebastian Diehl von der Universität zu Köln. Dies war ein erster Hinweis auf das Phänomen der selbstorganisierten Kritikalität.
„Die Experimente zeigten, dass sich einige Systeme von selbst bis zu ihrem kritischen Punkt des Phasenübergangs entwickeln“, so Diehl. Das ist überraschend – in einem typischen Phasenübergang, wie er beispielsweise beim Kochen von Wasser von einer flüssigen in eine gasförmige Phase auftritt, gibt es nur einen einzigen kritischen Punkt. Selbstorganisierte Kritikalität würde beim Wasserkochen bedeuten, dass das System selbständig am kritischen Übergangspunkt in einem Schwebezustand zwischen flüssig und gasförmig verharren würde, auch wenn die Temperatur geändert wird. Bislang wurde dieses Konzept in noch keinem so hochgradig kontrollierbaren physikalischen System verifiziert und getestet.
Nach ihrem Experiment kehrte das Team ins Labor zurück, um ein weiteres auffälliges Merkmal der selbstorganisierten Kritikalität zu bestätigen: ein selbsterhaltendes Verhalten von atomarem Zerfall, das dem von ständig nachgefütterten Lawinen gleicht. Ähnliche Charakteristika wurden in der Vergangenheit bereits in anderen Kontexten – wie Erdbeben oder Sonnenausbrüchen – lediglich qualitativ beobachtet. „Wir konnten hier erstmals die Schlüsselelemente der selbstorganisierten Kritikalität auch quantitativ experimentell beobachten und so ein spezifisch kontrollierbares atomares Experimentiersystem etablieren“, sagt Shannon Whitlock.
In weiteren Schritten möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun untersuchen, wie die Quantennatur der Atome den Selbstorganisationsmechanismus beeinflusst. „Wir könnten sie dann langfristig möglicherweise nutzen, um neue Quantentechnologien zu schaffen oder um einige Rechenprobleme zu lösen, die mit herkömmlichen Computern schwierig sind“, so Diehl.
Inhaltlicher Kontakt:
Professor Dr. Sebastian Diehl
+49 221 470-1056
diehl@thp.uni-koeln.de
Presse und Kommunikation:
Jan Voelkel
+49 221 470-2356
j.voelkel@verw.uni-koeln.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch
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