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Veranstaltungsreihe am Zentrum für Kindermedizin der Universität Leipzig widmete sich dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom
Wenn eine fürsorgliche Mutter mit ihrem ewig kranken Kind von Diagnose zu Diagnose, von Therapie zu Therapie und auch immer wieder von Arzt zu Arzt läuft, sind ihr Respekt und Mitgefühl ihrer Umgebung sicher. Doch so viel Aufopferung kann in sehr seltenen aber gefährlichen Fällen auch einen ganz anderen Hintergrund haben: Münchhausen-by-proxy. Dieses Syndrom war eines der Themen auf der kürzlich vom Zentrum für Kindermedizin der Universität Leipzig organisierten Folge der Veranstaltungsreihe zu Kindesmisshandlungen. Es referierte Prof. Dr. med. habil. Werner Johann Kleemann, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Leipzig.
Baron von Münchausen, der sogenannte "Lügenbaron", gab dem Syndrom, also dem Krankheitsbild, seinen Namen. Die "Lügner" sind in diesem Fall Menschen, die eine Erkrankung vortäuschen oder selbst provozieren. "Das Spektrum reicht von selbst beigebrachten Verletzungen bis zu falschen Aussagen über vorhandene Symptome", so Kleemann
Besonders dramatisch wird das jedoch, wenn betreuende Personen, zu 90 Prozent sind dies die leiblichen Mütter, dies ihren Kindern antun. Man spricht in diesem Fall von Münchhausen-by-proxy, also Münchhausen in Vertretung. Lang ist die Liste dessen, was sich solche Mütter einfallen lassen, um immer wieder eine Grund zu haben, mit ihrem Kind zum Arzt zu gehen oder an dessen Krankenbett zu sitzen. Sie beschreiben mit zumeist erstaunlichem Fachwissen nie vorhandene Symptome oder geben manipulierte Proben im Labor ab. Manchmal trichtern sie ihren Sprösslingen auch ein, was sie beim Arzt zu sagen oder wie sie auf bestimmte Tests zu reagieren haben. Schlimmer noch: Sie erregen bei ihrem Kind Krankheiten und schrecken nicht vor den grausamsten Eingriffen zurück. Vom Spritzen von Gift oder Medikamenten, vom Erzeugen von Fieber, Ausschlag, Erbrechen, Krämpfen, nicht heilenden Wunden ... bis zu Koma, Herzrhythmusstörungen und Atemstillstand reichen die von der Mutter bewusst verursachten Torturen - und bis zum Tode. Britische Analysen ergaben, dass zehn bis zwölf Prozent aller betroffenen Kinder diese Krankheit ihrer Mütter nicht übeleben.
"Warum diese Frauen das tun, ist eine Frage an die Psychologen und Psychiater. Unsere Aufgabe als Mediziner ist es, die Kinder zu schützen, indem wir die Möglichkeit der Täuschung nicht völlig ignorieren", grenzte Kleemann seine Thematik ein. Als Verdachtsmomente, die an das Syndrom denken lassen sollten, nannte er unter anderem, dass die beschriebenen Symptome sich nicht einer bestimmten Krankheit zuordnen lassen und immer nur in Anwesenheit einer speziellen Person auftreten. Die kleinen Patienten sind resistent gegen alle Therapieversuche. Am Verhalten der Mutter fällt auf, dass sie zu den Ärzten und dem Pflegepersonal ein sehr enges, häufig sogar freundschaftliches Verhältnis sucht - aber andererseits vehement dagegen einschreitet, wenn das Kind in ihrer Abwesenheit behandelt oder sogar allein zur Rehabilitation geschickt werden soll. Sorglos stimmt sie immer wieder neuen medizinischen Untersuchungen zu, selbst wenn sie für das Kind angsteinflößend oder schmerzhaft sind. "Aber besonders hellhörig sollte man werden, wenn ein Kind immer wieder anderen Ärzten vorgestellt wird, weil die vorangegangene angeblich nicht gründlich genug untersucht und nicht geduldig genug therapiert hätten", so Kleemann.
Der Experte warnte seine Zuhörer jedoch vor voreiligen Schlüssen: "Der Verdacht, dass eine betreuende Person am Münchhausen-by-proxy-Syndrom leidet, darf nicht zu einer übereilten Konfrontation führen. Der Mutter bliebe nämlich wiederum die Möglichkeit des sofortigen Arztwechsels. Und da wir kein Zentralregister mit Patientendaten haben, würde der neu angesteuerte Kollege das Kind auf deren Drängen abermals allen nur erdenklichen Diagnoseverfahren aussetzen und mit aussichtslosen Therapieversuchen beginnen."
Sollte sich der Verdacht nicht bestätigen, würde dies zu einer unnötigen Traumatisierung der Familie führen. Deshalb muss der Verdacht bewiesen werden, beispielsweise indem man sich mit anderen an der Behandlung beteiligten Personen und Institutionen in Verbindung setzt und die Kooperation mit anderen Fachärzten und Psychologen sucht. Sämtliche Spuren, so unter anderem Material für eine DNA-Untersuchung und für toxikologische Analysen sind gründlich zu sichern und alle klinischen Diagnosen überprüfen. "Andernfalls hat es keinen Sinn", so Kleemann, "den ganzen Apparat von Jungendhilfe bis Justiz in Gang zu setzen."
So schwierig es sei, in nahezu detektivischer Manier die eine unter vielleicht 200.000 Müttern herauszufinden, die zu solchem Vorgehen neigt, so wichtig sei es dennoch. "Wenn das Syndrom einmal bewiesen ist, hilft in vielen Fällen nur die zumindest zeitweise Trennung von Mutter und Kind", mahnte der Gerichtsmediziner und nannte die Rückfallquoten: So haben 40 Prozent der Kinder, die eine Vergiftung hinter sich haben, und die Hälfte derer, die einen Erstickungsversuch überstanden haben, Gleiches wieder zu befürchten.
Marlis Heinz
weitere Informationen:
Prof. Dr. Werner Johann Kleemann
Tel.: 0341 - 97 151 00
E-Mail: rechtsmedizin@medizin.uni-leipzig.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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