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Wissenschaft
Am Beispiel der Charts und Bestsellerlisten zeigen Physiker der Goethe-Universität, dass unsere Entscheidungsprozesse statistischen Gesetzen folgen, die von der Arbeitsweise unseres Gehirns beeinflusst sind. Wichtigste Annahme ist, dass Informationen aus der Außenwelt im Gehirn zunächst komprimiert und dann optimiert werden.
Lässt sich statistisch vorhersagen, was passiert, wenn eine große Anzahl von Menschen vor ähnlichen Entscheidungen steht? Das hat eine Gruppe unter Leitung von Claudius Gros vom Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität am Beispiel der Musikcharts, Bestsellerlisten und Tweets untersucht. Sie konnte zeigen, dass die Lebensdauer auf den Top-Positionen statistischen Gesetzen folgt, die sich aus der Verarbeitung von Informationen im Gehirn ableiten lassen.
Ein Hit landet auf Platz eins der Charts, weil ihn viele Menschen kaufen. Er läuft wiederholt im Radio, in Kaufhäusern und Restaurants. Noch mehr Menschen werden auf ihn aufmerksam, und das verstärkt seine Beliebtheit. Was andere gut finden, beeinflusst die Kaufentscheidungen vieler Einzelner. Claudius Gros interessiert, ob die Entscheidungen vieler statistischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Aus Erfahrung weiß man, dass sich nur einige wenige Hits wochenlang ganz oben in den Charts halten, während die große Masse von Neuerscheinungen schon eine Woche später durch etwas Neues verdrängt wird. Tatsächlich lässt sich die Verteilung der unterschiedlichen Lebensdauer von bestplatzierten Hits, Büchern oder Tweets statistisch vorhersagen.
Claudius Gros und seine Gruppe haben sich die Bestsellerlisten von klassischen Medien für Musik und Bestseller-Charts für Bücher vorgenommen, weil diese teilweise schon seit den 1960er Jahren nach denselben Kriterien aufgestellt werden. Als modernes Pendant untersuchten sie die Zahl der Downloads für Musikalben auf Spotify und im Nachrichtensektor die Anzahl von Retweets auf Twitter sowie von Kommentaren auf der Diskussionsplattform Reddit. Allen ist gemeinsam, dass die Platzierung aus den Entscheidungen vieler Einzelpersonen hervorgeht, die sich untereinander beeinflussen.
Der Ansatz der Theoretiker um Gros beruht auf der Annahme, dass unser Entscheidungsverhalten davon beeinflusst wird, wie unser Gehirn die Masse an Informationen aus der Außenwelt prozessiert und Relevantes herausfiltert. Das heißt, wenn man eine große Menge von Menschen untersucht, zeigt sich, dass ihre Entscheidungen statistischen Gesetzen folgen, die prägnant durch die Verarbeitungsprozesse im Gehirn bestimmt werden. Genauer gesagt: den Prozessen der Verdichtung und Optimierung von Informationen.
Unser Gehirn nimmt ständig neue Informationen auf. Da es aber nur eine begrenzte Speicherkapazität hat, muss es diese komprimieren – ähnlich wie bei einer Zip-Datei. Aus den Neurowissenschaften ist bekannt, dass zum Verdichten logarithmische Skalen verwendet werden. Das spiegelt sich etwa in unserer Einteilung der Zeit in Sekunden, Minuten und Stunden sowie Tage, Wochen, Monate und Jahre wider. So kann unser Gehirn konzeptionell mit fast beliebig großen und kleinen Zeiten arbeiten.
Neben den logarithmischen Skalen, mit denen die primäre Information komprimiert wird, muss das Gehirn noch eine inhaltliche Auswahl vornehmen. Dafür versucht es, insbesondere den statistischen Informationsgehalt zu optimieren. (In der Informationstheorie wird der Informationsgehalt durch die Shannon-Entropie ausgedrückt.) Die von Gros und seinen Mitarbeitern entwickelte Theorie beruht auf der Annahme, dass unser Gehirn nicht den Informationsgehalt der direkten Sinneswahrnehmungen optimiert, sondern die bereits komprimierten Informationen. Das Gehirn kann für die Auswahl relevanter Inhalte nämlich nur auf die interne Darstellung der Welt zugreifen, die schon verdichtet wurde. Komprimieren und Optimieren wären damit zwei aufeinanderfolgende Schritte. Für die Optimierung der internen Information haben die Forscher präzise mathematische Zusammenhänge entwickelt.
Eine gute Übereinstimmung zwischen Theorie und Daten wurde für die Verteilung der Lebensdauer von Musikalben auf Download Charts von Spotify gefunden. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass die Lebenszeit für tagesaktuelle Charts einer logarithmischen Verteilung folgt. Für wöchentliche Charts ist dagegen ein Potenzgesetz charakteristisch. Diesen auffallenden Unterschied zwischen täglichen und wöchentlichen Charts erklären Gros und seine Gruppe dadurch, dass es im Durchschnitt eine gewisse Zeit dauert, ein ganzes Album herunterzuladen und anzuhören. Früher war die Reaktion sogar noch stärker verzögert, weil die Käufer erst Zeit finden mussten, in den Laden zu gehen und eine Platte zu kaufen. Deshalb gab es früher auch Hits, die sich über einige Wochen an die Spitze hocharbeiteten, während heute – aufgrund der schnellen Informationsverbreitung – die Top Hits sofort auf Platz eins landen.
Die Vorhersagen für die statistische Lebensdauer von Musikdownloads und Tweets sind so exakt, dass man sogar den Einfluss des 24-Stunden-Tag-Nacht-Zyklus feststellen kann (weniger Aktivität in der Nacht). Darüber hinaus wurden ähnliche statistische Vorhersagen auch für die Bestsellerliste der New York Times gemacht sowie für die Billbord-Charts für klassische Musikalben.
Prof. Dr. Claudius Gros
Institut für Theoretische Physik
Campus Riedberg,
E-Mail: gros07@itp.uni-frankfurt.de
Lukas Schneider, Johannes Scholten, Bulcsú Sándor, Claudius Gros, Charting closed-loop collective cultural decisions: From book best sellers and music downloads to Twitter hashtags and Reddit comments, European Journal of Physics B (2021); https://doi.org/10.1140/epjb/s10051-021-00173-0
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Informationstechnik, Mathematik, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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